Brutalität contra Unwissenheit:Hort der Missverständnisse

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Beim Verkehrsforum der "Süddeutschen Zeitung" sprechen Experten über den "Kampfplatz Straße", auf dem sich die Wege unterschiedlichster Menschen kreuzen

Von Marion Zellner, München

Zwei Lastwagen fahren auf gleicher Höhe die Autobahn entlang. Wieder mal eines der vielen Elefantenrennen möchte man meinen. Doch: Die Lkw-Fahrer beschießen sich in voller Fahrt durch die geöffneten Fenster mit Gaspistolen. Zugegeben - es ist ein extremer Fall, den Katja Hartmann da schildert. Doch die Polizeiobermeisterin von der Autobahnpolizei Holzkirchen weiß aus Erfahrung, dass im Straßenverkehr "immer mehr die Ignoranz greift" - gegenüber Mitmenschen. Das Gefühl, dass sich auf den Straßen Rücksichtslosigkeit, Aggressionen und Egoismus zunehmend Bahn brechen, teilen viele. Doch wie steht es wirklich um unsere Verkehrsmoral? Befinden wir uns als Verkehrsteilnehmer auf dem "Kampfplatz Straße", fragte deshalb das Verkehrsparlament der Süddeutschen Zeitung Experten bei einer Podiumsdiskussion.

"Es geht um Leben und Tod." So beschreibt Gerhard Laub, Diplom-Psychologe beim TÜV Süd, das, was sich täglich im Stadtverkehr, auf Landstraßen und Autobahnen abspielt. Das Geheimnis dieser alltäglichen Verkehrsströme sei offenbar die "Flüchtigkeit der Begegnung". Für Leonie Gauer, die an der katholischen Universität Eichstätt am Lehrstuhl für Erwachsenenbildung arbeitet, ist das sogar ein "Sonderfall der menschlichen Begegnung". Der Straßenverkehr ist wohl der einzige Raum, in dem sich Wege aller Arten von Menschen kreuzen: Autofahrer, Radler, Fußgänger, jung, alt, arm, reich, lustig, traurig. Und: Man kennt sich nicht und weiß nichts voneinander. Die Eichstätter Professorin und Lehrstuhlinhaberin Margret M. Fell hat bei Untersuchungen festgestellt, dass während dieser zwangsweise gemischten Nutzung des Verkehrsraums - einem "Hort der Missverständnisse" - das Gegenüber nicht als Mensch wahrgenommen wird, sondern als Objekt. Das spiegle sich in der Sprache wider. Oft fielen Sätze wie: "Das Auto vor mir hat gebremst."

Diese mangelnde Wertschätzung unter Verkehrsteilnehmern hat auch mit Anonymität zu tun. Durch zwei Autoscheiben hindurch sinkt die Hemmschwelle, lauthals zu fluchen oder eindeutige Gesten zu zeigen. Im persönlichen Kontakt zweier Menschen, erst recht, wenn sie sich kennen, fällt das den meisten zumindest deutlich schwerer. Dazu machen Verkehrsteilnehmer immer wieder die Erfahrung, dass das eigene rücksichtslose Tun oder das anderer sehr lange folgenlos bleibt.

Doch warum verhalten sich Menschen überhaupt rücksichtslos? Stress und Zeitdruck gehören wohl zu den wichtigsten Auslösern. Besonders bei Berufskraftfahrern - von Fernfahrerromantik ist diese Branche schon lange weit entfernt. Im Lkw wacht heute ein digitaler Tachograf sekundengenau über den Fahrer und seine Aktivitäten, jederzeit für die Polizei nachvollziehbar. Doch der Straßenverkehr könne nicht derart genau kalkuliert werden, sodass die Fahrer zwangsläufig in die gesetzliche Falle tappen würden, meint Wolfgang Anwander, Vizepräsident des Landesverbands bayerischer Transport- und Logistikunternehmen. Der Stress entstehe durch Verzögerungen an den Laderampen, wegen Staus, aber auch wegen fehlender Parkplätze an den Autobahnen. Da die gesetzlichen Ruhezeiten einzuhalten, sei den Fahrern fast unmöglich.

Psychologisch weniger komplex als Stress, aber nicht minder wirkungsvoll auf andere ist Unwissenheit. Wenn ein Autofahrer keine Ahnung hat, wie er sich beim grünen Pfeil richtig zu verhalten hat, und stur stehen bleibt, statt bei freier Straße abzubiegen, wird sich der Hintermann wohl provoziert fühlen und hupen. Oder ein Fahrer bleibt auf der Autobahn links, obwohl ihn ein Nachfolgender überholen möchte und dürfte. Der Hintermann nutzt die Lichthupe, setzt den Blinker. Ein Drängler und Provokateur? Mitnichten. Außerorts darf er das, so lange er Abstand hält. "Der Oberlehrer und Nötiger ist der Vordermann", sagte Polizistin Hartmann.

Bedeutet das, eine gute Führerscheinausbildung reicht, um ideale Autofahrer hervorzubringen? So weit geht Frank Reindel nicht. Das erste Ziel des Unterrichts sei, das Fahrzeug zu beherrschen, sagt der Fahrlehrer und Regionalverbandsvorsitzende von München. Während der Fahrstunden lernt der Schüler die "Soll-und-Ist-Form" kennen. Das heißt: Wie verhält man sich regelkonform, und was machen währenddessen die anderen Autofahrer? Der Auto-Lehrling fährt mit Tempo 50 in der Stadt, der selbsternannte Könner überholt da mal locker. Die Tendenz, gegen Regeln zu verstoßen - und wenn es nur ein bisschen ist - kennt nahezu jeder. Und mal ehrlich: Was denkt man über jemanden, der erzählt, sich stets regelkonform zu verhalten? "Man hält ihn für langweilig", sagt Psychologe Laub.

Und doch ist es ein Anfang, sich auf der Straße an die Regeln zu halten. Das allein reicht aber nicht, um die allgemeine Verkehrsmoral zu stärken. Da Straßenverkehr im Wesentlichen soziale Situationen hervorbringt und Menschen systembedingt aufeinandertreffen, helfe nur eins, nämlich teilen, meint Leonie Gauer. Zum einen den vorhandenen Verkehrsraum, zum anderen die Erfahrungen. Das heißt: über sich und die anderen nachdenken, miteinander in den Dialog treten, Gelassenheit schadet auch nie und vor allem Respekt zeigen: Denn es geht um nicht weniger als das Leben von Menschen.

© SZ vom 25.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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