Belagerungszustand:Der Feind steht vor den Toren

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Regierungssoldaten und Freikorps bereiten sich auf den Angriff vor

Von Giordana Marsilio

Sie sollten die Arbeiter be- und die Bourgeoisie entwaffnen, riet Wladimir Iljitsch Lenin den Anführern der bayerischen Räterepublik am 27. April 1919 per Telegramm. Mit einer ganzen Liste von Maßnahmen sollten sie die Lage der Arbeiter und Bauern verbessern - und alle Arbeiter zur Verteidigung mobilisieren. Dann müsse ihre Lage "befestigt sein", so Lenin. In Wahrheit freilich konnte von Sicherheit in München längst keine Rede mehr sein. Von Norden rückten Soldaten der Reichsregierung und der bayerischen Regierung Johannes Hoffmann vor; im Umland hatten sich konterrevolutionäre Freikorps gebildet. Doch davon wusste Lenin in Moskau im Einzelnen nichts.

Dabei schienen die Räte anfangs keineswegs chancenlos. Mitte April gelang es der hastig aufgestellten Roten Armee unter der Führung Ernst Tollers, Soldaten der Regierung aus Dachau zu vertreiben. Erfolge feierten die Kommunisten auch in Freising und Rosenheim. Doch nutzen konnten sie den Augenblick nicht. Die Regierungstruppen waren schlicht zu schnell vorgerückt und überschätzten nun die Stärke der Roten Armee. Und Toller setzte ohnehin auf Verhandlungen.

Die Zeit spielte den Gegnern in die Hände. München war von Kohle- und Lebensmitteltransporten abgeschnitten, Essen wurde knapp. Darüber hinaus gewährte Reichswehrminister Gustav Noske seinem Parteifreund von der SPD und bayerischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann bereitwillig militärische Hilfe. Binnen weniger Tage zogen 35 000 konterrevolutionäre Soldaten gegen München, darunter bayerische und württembergische Soldaten ebenso wie Einheiten der Berliner Regierung und Freikorps. Ende April war München eingeschlossen; die Soldaten standen im Norden vor Freising, im Westen vor Fürstenfeldbruck, im Südwesten vor Starnberg und im Südosten vor Rosenheim. Innerhalb Münchens hatte die Räteregierung mit konterrevolutionären Saboteuren zu kämpfen. Und der Befehlshaber der Reichswehr Ernst von Oven wies seine Soldaten an, keine Rücksicht zu nehmen: Kein Spartakist dürfe entkommen, jeder Bürger, der seine Waffen nicht abgegeben habe, sei als Feind zu behandeln, hieß es in seinem Korpsbefehl. Verhandelt werde nicht.

Die Räteregierung reagierte mit einem weiteren Generalstreik, um die Verteidigung zu organisieren. Grund zur Zuversicht aber gab es wenig. Sie stand einer Übermacht gegenüber. Die meisten Außenposten fielen rasch. Bis zum 30. April stießen die weißen Truppen bis zu den Vororten Münchens vor. Der Feind stand vor den Toren.

© SZ vom 27.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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