Bahnhofsviertel:"Man lebt hier nicht zusammen - sondern parallel"

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Sexshops und Spielhöllen, Luxushotels neben Gemüseläden - der Mix in der Gegend um den Hauptbahnhof hat mit dem Rest der Stadt wenig zu tun.

Wolfgang Görl

Das hellrot getünchte Haus, Landwehrstraße 25, wäre für jemanden, der zur symbolischen Weltsicht neigt, kein schlechtes Objekt, das Dasein in seinen wesentlichen Elementen auszuloten. Ebenerdig lockt die Sünde, oder besser gesagt: das, was sittenstrenge Menschen dafür halten.

"Nackertes" Kabarett und Spielhöllen: Das Angebot für Nachtschwärmer ist nicht unbedingt jugendfrei. (Foto: Foto: Stephan Rumpf/SZ)

Das Cabaret "Showtime", Eintritt nicht unter 18 Jahren, hat sich hier einquartiert, eine den Männersehnsüchten verpflichtete Bar, in der unter anderem eine exotische Schönheit namens Anu tätig ist - davon später.

Darüber, im ersten Stock, ist das "Studio Albertus", wo man tanzen lernen kann, besonders gut den Stepptanz. In der zweiten Etage, aber davon kündet weder eine bonbonfarbene Neonleuchtschrift noch ein dezentes Firmenschild wie bei Albertus, befindet sich eine Moschee, allerdings eine, die vermutlich der Verfassungsschutz beobachtet, weil sie der als "islamistisch-extremistisch" eingestuften Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs gehört.

Eine Art Multi-Kulti-Welt

Nimmt man den türkischen Supermarkt im Nachbargebäude hinzu, dann wären die existenziellen Dinge des Lebens zumindest halbwegs beieinander: Essen, Trinken, Sex, Religion, ritualisierte Formen der Geselligkeit und natürlich das Geld, das mit all dem in Umlauf kommt.

Man könnte aber auch der Idee näher treten, das betreffende Gebäude als Miniaturmodell des Münchner Bahnhofviertels zu nehmen, als eine Art Marionettenbühne, auf der sich im Kleinen all das abspielt, was den Charme dieses Quartiers ausmacht. Und man wäre vielleicht froh, dass es diese Vielfalt gibt: eine Art Multi-Kulti-Welt, in der jeder nach seiner Façon leben kann.

Als das zur Sprache kommt, runzelt Ali Erdem die Stirn. "Man lebt hier nicht zusammen", sagt er, "sondern parallel". Erdem ist im Vorstand der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer, und weil das Bahnhofsviertel voller türkischer Geschäfte ist, kennt er sich hier blendend aus.

Mag ja sein, dass deutsche Kunden gern bei den reichhaltig vorhandenen türkischen Gemüsehändlern einkaufen, aber ansonsten "will man nichts miteinander zu tun haben". Erdem bedauert dies, aber so sei es nun mal.

Sollte er recht haben, wäre das Haus in der Landwehrstraße ein treffliches Beispiel. Unten das Strip-Lokal, oben die muslimischen Gebetsräume - die friedliche Koexistenz funktioniert, weil man einander ignoriert.

Es ist ein trüber Donnerstagnachmittag, an der Ecke Landwehr-/Goethestraße staut sich der Verkehr, so dass die im Freien ausliegenden Früchte des Viktualienhändlers Cavusoglu von Abgasschwaden umwölkt sind. "Die Goethestraße ist das türkische Geschäftsmekka", sagt Erdem. Hier gibt es vier türkische Banken, und am liebsten würde jeder seiner Landsleute, der einen Laden eröffnen möchte, diesen Standort wählen.

Untertags reiht sich ein Gemüsestand an den nächsten. (Foto: Foto: Andreas Heddergott/SZ)

Ein paar Schritte weiter, in einem Rückgebäude in der Landwehrstraße, begrüßt Erdem den Imam Suleyman Bozkurt, der die kleine Moschee Kuba Camii leitet. Der Gebetsraum ist mit einem grünen Teppichboden ausgelegt, Bozkurt, der 1970 als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen ist, sitzt vor der mit blauen Kacheln ausgelegten Gebetsnische, der Mihrãb. Sie zeigt an, in welcher Richtung Mekka liegt.

Orientalischer Mikrokosmos

Suleyman Bozkurt erzählt, dass es meist ältere Männer sind, die sich hier fünfmal am Tag zum Gebet versammeln, und die Frauen, ja leider, für die habe man noch keinen Gebetsraum, dazu fehle das Geld. Und noch eins liegt ihm am Herzen, das muss in Zeiten wie diesen gesagt werden: "Wir haben keine Verbindung zu politischen Organisationen. Wir fühlen uns der deutschen Verfassung zugehörig."

Es gibt noch Tee in einem Küchenraum, in dem auch Bedürftige verköstigt werden, und beim Herausgehen begegnen einem die Männer, die sich alsbald niederwerfen werden in Richtung Mekka - ein orientalischer Mikrokosmos im Hinterhaus, den man ohne Hilfe wohl nie entdecken würde.

Acht Stunden später, die Bayerstraße kurz vor Mitternacht. In der Bar des Dorint-Sofitel-Hotels nehmen Geschäftsleute im feinen Zwirn einen Schlummertrunk, sofern sie nicht zum Angriff auf eine der Frauen übergegangen sind, die sich allerdings rar machen.

Von dieser Welt etwa zehn Lichtjahre entfernt ist die Spielhalle "Las Vegas City", in der Serhan gerade in einen Schusswechsel mit virtuellen Monster-Soldaten vertieft ist.

Serhan, braune Lederjacke, schwarze Lackschuhe, ballert wild auf die feindlichen Verbände, die ihrerseits aus dem Computerschirm zurückschießen, und deshalb hat er keine Lust und schon gar keine Zeit für ein Gespräch - was im Übrigen für die meisten gilt, die in dieser Halle teils in Kriegshandlungen, teils in Glücksspiele verwickelt sind.

Dem Höllenlärm entkommen, gehen wir Richtung Schillerstraße, vorneweg zwei Amerikaner, von denen der eine sagt: "This is not a red-light-district." Ob sie das bedauern, ist nicht herauszuhören, jedenfalls kehren sie im Pilspub "Bierhimmel" ein, einem eher rustikalen Etablissement mit bayerischem Dekor in verschwenderischer Fülle. Im Augenblick tanzt dort ein einsames Paar zum "Sunshine-Reggae".

Nur "Sexyland" oder doch Rotlichtviertel?

O Lord, die Amis! Wenn es heikel werden könnte, ziehen sie den...nein, bleiben sie doch beim Bier, jedenfalls in München. Dabei wäre das "Sexyland" nicht weit gewesen, wo für sieben Euro Eintritt die Kultur des Tabledance gepflegt wird.

Der Raum ist finster, nur das Podium ist großzügig ausgeleuchtet, und was sich darauf abspielt, versetzt die vier jungen Burschen, die wie Kletten am Bühnenrand hängen, zunehmend in Verzückung. Jedesmal Jubelschreie, wenn eine der Tänzerinnen den letzten Fetzen Stoff abstreift, und als Sophie, die schwarzhaarige, stolze Sophie, ihre Haut bloßlegt, sind sie gar nicht mehr zu halten.

Wer darf zuerst die Nummer mit dem "Sexyland-Dollar" wagen, den es an der Kasse für einen Euro zu kaufen gibt? Der Blondschopf ganz links fasst sich ein Herz, das heißt, er nimmt den Geldschein zwischen die Lippen, und Sophie beugt sich herunter, wiegt ihren Körper zum Hiphop-Gedröhne, und wie durch ein Wunder klebt der Sexyland-Dollar mit einem Mal zwischen ihren nackten Brüsten.

Dann fällt der Slip, und sie stolziert mit einem Blick über die Bühne, als wollte sie sagen: Ich könnte euch alle haben, ihr aber kriegt mich nicht.

Die Reporterpflicht erfordert es, im roten Haus an der Landwehrstraße nachzusehen, ob dort noch Muslime beten oder Stepptanz geprobt wird. Leider, die betreffenden Fenster sind dunkel, dafür strahlt die Neonleuchtschrift des Cabarets "Showtime" umso heller.

Apropos Cabaret: In einem frühen Programm des Kabarettisten Sigi Zimmerschied stellte eine seiner Figuren mal die Frage: "Kabarett? Politisch oder nackert?" Nun, beim "Showtime" handelt es sich überraschenderweise um die zweite Variante.

Es gibt dort eine gut verspiegelte Bühne, auf der junge Damen die vier senkrecht gestellten Turnstangen schlangengleich umtanzen, wobei mit der Bekleidung genau das geschieht, was die Herren an der Bar erwarten.

"Spendierst du mir einen Piccolo?"

In diesen Minuten sind es übrigens nur drei: einer, der wahrscheinlich Stammgast ist und mit der Barfrau plaudert; ein zweiter, etwas korpulenterer, Typ Fernfahrer; und schließlich ein traurig blickender Künstlertyp, der offenbar auf erotisch aufgeladene Gefühlsdesaster aus ist.

Okay, und da wäre noch der Reporter im Dienst, dem sich gerade eine mandeläugige Schöne im roten Rüschenkleid nähert. Händeschütteln. Sie sagt, sie heiße Anu. Sagt, sie komme aus der Mongolei. Sagt, sie arbeite sonst als Raumausstatterin. Und dann hätte sie noch eine Frage: "Spendierst du mir einen Piccolo?"

Der Piccolo kostet 25 Euro, was das vom Chef bewilligte Budget umgehend sprengen würde. Anus Blick oszilliert zwischen Mitleid und Verachtung. Womöglich hält sie den Reporter für einen Verfassungsschutz-Agenten.

© SZ vom 02.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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