Einen Beutel voller Erinnerungen. Mehr als das besitzt Heinrich Stricker nicht in diesen Tagen im Juni 1969. Einzig ein Päckchen Tagebucheinträge, aufgezeichnet auf losen Papierschnipseln. Geld? Ausgegeben. Die Uhr, die er zur Firmung bekommen hat? Verpfändet. So sitzt er in Chittagong, einer Hafenstadt im heutigen Bangladesch; in einem Wickeltuch, Hosen trägt er schon lange nicht mehr. Rikschafahrer lassen ihn in einer Bambushütte schlafen, ein einfaches Restaurant gewährt ihm Kredit.
Keine Sicherheiten, keinen weiteren Weg mehr vor sich, weil Burma für Durchreisende gesperrt ist. Er ist am Ende seiner Reise. Aber, wenn man so will, am Beginn einer literarischen Karriere. "Trip Generation" heißt Strickers Roman über seine Tramp-Karriere, mit dem er zum deutschen Ableger der Beat Generation, zum Kultautor wird.
"Heini" wird Stricker in seiner Jugend gerufen, doch das versteht man nicht in Asien. Dort bekommt er den Spitzname Tiny - weil er so klein ist. Eine hagere Gestalt, das ist das erste, was auffällt, wenn man Stricker, heute 63 Jahre alt, trifft: Freizeitschuhe, Jeans, kurzärmliges Hemd. Keinerlei Hinweis auf seine Vergangenheit. Kein bisschen Leinenhemd, kein bisschen Langhans. Aber warum soll man auch ein ganzes Leben lang wie ein Hippie aussehen? Wenn es längst einen normalen Alltag gibt, der ihn immerhin - wenngleich nicht als Aussteiger - ins Ausland geführt hat. Nach Sarajewo, ans Goethe-Institut Bosnien und Herzegowina, als Leiter der Spracharbeit.
Was geblieben ist von damals? Ein wenig in sich gekehrt wirkt Stricker auch heute noch. Nahezu bewegungslos sitzt er am Tisch, den linken Arm im Schoß, nur mit der rechten Hand zupft er sich ab und an am Ohr oder am Hals. Er spricht leise, so leise, dass er manchmal nur sehr schwer zu verstehen ist.
Seine Kindheit verbringt er in Gundelfingen, das musische Gymnasium besucht er in Lauingen, das wilde Leben aber - also zumindest aus Sicht eines schwäbischen Heranwachsenden - erprobt er in Dillingen. Es ist die Zeit des Aufbegehrens, Stricker versucht sich frei zu kämpfen. Wenn auch zunächst nur bei kleinen Dingen: zum Beispiel in der Poesie. Es ist die Zeit von Jack Kerouac und William S. Burroughs - und Stricker gibt den Rebell. 1968 etwa, bei der Veranstaltung "Beat & Lyrik", im Saal des Dillinger Klosterinternats. 300 Besucher wollen diese Dichterlesung mit Schlagzeugbegleitung hören, ein Mega-Event für diese Zeit in diesem verschlafenen Ort: Stricker lässt Jesus fluchen, Rebellen-Lyrik, "und in der ersten und zweiten Reihe saßen nur Nonnen", sagt Stricker. Er kichert in diesem Moment, kaum wahrnehmbar.
Ausschließlich Nonnen?" Benno Käsmayr, Jugendfreund von Stricker, Veranstalter dieses schwäbischen Beat-Abends und heute Chef des Maro-Verlags in Augsburg, wundert sich. "Das waren die Mädels und Lehrerinnen von St. Bonaventura, vom ortsansässigen Mädchengymnasium, auf dem sich später auch die Gattin des Ex-Kanzlers Schröder tummelte." Käsmayr hat 1970 Strickers Buch "Trip Generation" veröffentlicht.
Schon alleine, wie es dazu kommt, ist eine wilde Geschichte in einer wilden Zeit. Doch der Reihe nach: Im Anschluss an das Abitur 1968 meldet sich Stricker bei der Marine. Es lockt der Traum der weiten Welt - doch schon nach kurzer Zeit wird er für untauglich erklärt: nicht schwindelfrei. Er studiert ein Semester in Erlangen, Germanistik und Anglistik. Wechselt dann im Frühjahr 1969 nach München, wohnt bei entfernten Verwandten am Harras - doch dieses Leben engt ihn ein. Die Uni? "Sekundär", sagt Stricker. "Ich wollte nur noch entkommen." Alle seien damals inspiriert gewesen, "on the road zu gehen", sagt er. Kerouac eben, "sich der Reise überlassen", der klassische "Hippie-Trail", wie Stricker sagt. Das Ziel: Kathmandu. "Ich wollte mich aber auch treiben lassen", erinnert sich Stricker.
Nach drei Wochen München steigt Stricker in den Orient Express. Von Istanbul aus trampt er nach Teheran, mit Bussen und in Pakistan mit dem Zug reist er nach Karachi, kommt dort bei der Heilsarmee unter. Mit dem letzten Geld sichert er sich ein Schiffsticket nach Ceylon - auf einem Frachter, der Fischmehl geladen hat. Da er bei der Ankunft in Colombo keine finanziellen Sicherheiten nachweisen kann, muss er auf dem Schiff bleiben, das nach Chittagong weiterfährt. Dort geht er von Bord. Die ganze Reise eine einzige Bewusstseinserweiterung: durch Erlebnisse, durch Literatur, natürlich auch durch Drogen.
In seinem Buch "Trip Generation" liest sich das dann so, etwa über die Tage, die er in einem Büro einer Schifffahrtsgesellschaft wartet, um weiterzukommen: "Wäre viel lieber Bademeister im Hotel Intercontinental und würde den Damen die Brüste abfrottieren mit dem Temperament eines Südländers, wäre viel lieber Barmixer im Café India und würde den Verlassenen nicht ein kühles Lächeln schenken! Wäre überhaupt viel lieber eine Seerobbe im nördlichen Grönland und würde mich von meinem eisverkrusteten Schnurrbart kitzeln lassen und der Sonne einen Schneeball ins Gesicht werfen."
Im heutigen Bangladesch sitzt er dann fest. Hippie-Freunde versuchen, mit einem kleinen Segelschiff an Burma vorbeizusegeln, stranden und landen im Gefängnis. Stricker bleibt in Chittagong und jobbt, um Geld für die Heimfahrt zusammenzubringen. Zunächst in einem Schiffshändler-Büro, später im "Seamen's Welfare Club", einer Wohlfahrtsorganisation für Seeleute - dort, so erinnert er sich, bringt ihm ein Butler jede Stunde eine Marlboro. Stricker hat nichts zu tun. Und somit viel Zeit für seine Aufzeichnungen.
Einen ganzen Beutel voll mit Zetteln und Erinnerungen bringt er zurück nach München. Ein Buch soll es werden, davon erzählt er auch seinem alten Kumpel Käsmayr, den er zufällig in der Mensa der LMU trifft. Gerade dass "Original-Papiere und Fundstücke seiner Reise in das Manuskript eingefügt waren, wertete das Konvolut in meinen Augen auf", erinnert sich der Chef des Maro-Verlags. "Es waren die Jahre der Pläne", sagt Käsmayr, die, im Fall von "Trip Generation", auch umgesetzt worden sind - "mangels Produktionsmittel und Geld haben wir das Buch über einen Spiritus-Matrizen-Umdrucker im Keller meines Schwagers realisiert", so der Maro-Chef. Das erste Buch des Augsburger Verlags, der später die Werke von Charles Bukowski nach Deutschland gebracht, John Fante entdeckt und die ersten Texte von Jörg Fauser gedruckt hat.
Aber all das können die beiden nicht ahnen, damals im Herbst 1969, in der LMU-Mensa. Stricker übergibt die Reiseerinnerungen, Käsmayr muss sie abtippen. Und manchmal auch Sachen dazu erfinden. Auf eine Seite tippt er vollkommen kirre "Ich bin ein Micky-Maus-Heft." Der einzige Satz auf einer ansonst freien Seite. "Das war ja die Zeit von Speed", hat er dazu mal in einem Interview gesagt.
Wilde Zeiten eben. "Trip Generation" - die Erstauflage umfasst 100 Exemplare - wird zum "Alternativbuch des Jahres", bekommt gute Kritiken ("ein typischer Erstlingsroman: total ichbezogen, narzisstisch und voller Illusionen" schreibt die FAZ 1971), wird in Berlin an der Uni in Seminaren behandelt, erscheint 1972 mit einer Auflage von 20 000 Exemplaren bei Rowohlt - und wird dann in der Presse verrissen ("ein geistloser Mischmasch, problemlos und langweilig", schreibt die Zeit 1972).
Und Stricker: Er schließt sich nach seiner Rückkehr erst einmal eineinhalb Jahre einer Musik-Kommune an. Siloah nennt sich die Combo, eine rätselhafte Münchner Hippie-Band im Schatten von Amon Düül - langhaarig, psychedelisch und heute wohl nur Ewig-Hippies zu empfehlen.
Nach drei Sommern ist alles vorbei. Stricker bekommt als Stipendiat Begabtenförderung und muss Scheine vorweisen, damit diese Geldquelle nicht versiegt. Er wird nun ein "ernsthafter Münchner Student", wie er sagt, gereist wird nur noch in den Semesterferien, finanziert durch Jobs als Kaufhausdetektiv und Nacktmodel an der Meisterschule für Mode. Der Übergang vom Beatnik zum Bildungsbürger geschieht schrittweise. "1971 hing ich eine Zeitlang in Essaouira in Marokko rum, das damals als Zentrum der Hippie-Kultur galt, und man sah schon den Niedergang, den Abtörn, wie wir damals sagten", erinnert sich Stricker. Und eines Tages sind dann auch die blonden Locken ab: die langen Haare, Jeans und Lederjacke, das habe bei der ersten Lehramtsprüfung den Professoren nicht gepasst. Es hat eine schlechte Bewertung gegeben - und daraufhin eine optische Umgestaltung.
Als "Sonntagskünstler", wie er sich jetzt nennt, taucht er immer wieder ein in diese wilde Zeiten. In die "Soultime" (Maro) von damals etwa, erschienen 1989. Oder er begibt sich wieder auf Tour, überführt ein Auto von München nach Persien, etwa in seinem gerade erschienen Roman "Ein Mercedes für Täbris" (Maro). Die Hippies sind verschwunden, die Erinnerungen bleiben.