Auszeichnung:Das Ringen um Verständnis und Akzeptanz

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Gemeinsam gegen Vorurteile: Anja Rosengart, Stefanie Lehmann und Ekaterina Zeiler (v. l.) vom Netzwerk Participation. (Foto: Florian Peljak)

Der Bezirk Oberbayern ehrt die Anti-Stigma-Kampagne Basta und das Netzwerk Participation mit einem Inklusionspreise für ihre Arbeit mit psychisch Erkrankten und Menschen mit Behinderung

Von Christina Hertel

Morgens in der Schule ritzt sich Kerstin Schultes mit dem Zirkel in den Arm, so lange bis es blutet. Nachts schläft sie auf einem Bett, unter dem sie ein Rasiermesser versteckt. Für sie ist die Klinge der Ausweg, wenn sie ihr Leben, das zu dem Zeitpunkt gerade mal 15 Jahre dauert, nicht mehr aushält. Kerstin Schultes trägt nur schwarz, spricht kaum, meistens sitzt sie da und starrt ins Leere. Fast 30 Jahre ist das her. Rückblickend, sagt sie, sei das ihre erste Depression gewesen, auf die noch viele weitere folgen sollten. Heute ist Schultes 44 Jahre alt, trägt einen silbernen Ring in der Nase, sitzt im Schneidersitz auf ihrem Sofa, eine Tasse Kräutertee in den Händen. An der Wand hängt der Spruch "Gar nicht krank ist auch nicht gesund" von Karl Valentin. Sie sagt: "Ich wollte mich nie umbringen. Aber dass es die Möglichkeit gab, hat mich beruhigt."

Seit drei Jahren sei sie stabil, seitdem spricht sie in Schulen über ihre psychischen Erkrankungen für Basta, einer Anti-Stigma-Kampagne, bei der Betroffene, Angehörige und Ärzte zusammenarbeiten. Schülern, zwischen 14 und 20 Jahre alt, erzählt Schultes regelmäßig von Wochen, in denen sie den ganzen Tag mit der Decke über den Kopf gezogen im Bett lag, weil sie sich nicht aus dem Haus traute, weil sie sich so hässlich fühlte, so dumm, so faul. Sie berichtet von Tagen, an denen ihr Körper schwer wie Blei und jedes Gefühl in ihr ein einziger Schmerz war. Sie schildert, wie sie jahrelang jeden Tag kiffte und trank, oft drei, vier Liter Wein, zehn, zwölf Liter Bier, um den Schmerz wegzuspülen. Sie beginnt ihre Erzählung noch vor dem Tag, an dem sie auf die Welt kam, weil sie in eine Familie hineingeboren wurde, in der das Verhältnis zueinander nicht von Liebe, sondern von Macht, Alkohol und gegenseitiger Abhängigkeit geprägt war. Schultes spricht vor den Schülern über all das, damit diejenigen, die gesund sind, mehr Verständnis mitbringen. Und die, denen es ähnlich geht wie ihr damals mit 15, erfahren, dass es Hilfe gibt.

Für dieses Projekt verleiht der Bezirk Oberbayern Basta an diesem Mittwoch den Inklusionspreis. Psychisch Erkrankte, Angehörige und Ärzte gründeten das Basta 2001. Damals sollte in Starnberg eine Wohngruppe für Menschen mit einer psychischen Krankheit eröffnet werden, und die Nachbarn machten dagegen Stimmung. "Wir spürten, dass es mehr Aufklärung braucht", sagt Elfriede Scheuring, die bei Basta Pressearbeit macht. Seitdem spricht das Bündnis in München und Rosenheim jedes Jahr in etwa 100 Schulklassen. Schultes sagt, sie hoffe, damit etwas Gutes zu tun. Denn sie ist überzeugt: Wenn sie selbst früher Hilfe in Anspruch genommen hätte, wäre ihr Leben anders verlaufen. Erst mit 30 bekam sie die Diagnose: Borderline, Depression, Sucht, Trauma. Am Anfang sei das für sie ein Schock gewesen - und gleichzeitig eine Erleichterung. "Ich merkte, ich bin gar nicht faul oder dumm, sondern krank." Es folgten Therapien und Klinikaufenthalte. Trotzdem wird ihr Leben immer anders sein als das von anderen. Sie schafft es nicht, acht Stunden am Tag zu arbeiten. Mit 44 ist sie bereits verrentet. Ein paar Stunden die Woche arbeitet sie in einem Gewürzkontor, spielt Theater, singt im Chor, engagiert sich für Flüchtlinge und in einer Selbsthilfegruppe.

Um mehr Verständnis und Akzeptanz geht es auch Stefanie Lehmann. Die 61-Jährige gründete vor acht Jahren das Netzwerk Participation, das für Eltern, Fachleute und Interessierte Seminare zum Thema Inklusion gibt und das ebenfalls einen Preis des Bezirks Oberbayern erhält. Lehmann ist selbst Mutter einer Tochter, die eine Beeinträchtigung hat. "Ich merkte oft, dass ich angestarrt werde", sagt Lehmann. "Aber ich habe Leute auch über meine Tochter sagen hören, dass so etwas heutzutage doch gar nicht mehr nötig ist." 2010 lernte sie eine englische Organisation kennen, bei der Menschen mit einer Behinderung und Eltern, die ein Kind mit einer Beeinträchtigung haben, zusammen Workshops halten. Lehmann gefiel das Konzept so gut, dass sie ein solches Netzwerk in Deutschland aufbaute.

Lehmann möchte, dass ihre Seminarteilnehmer Vorurteile erkennen, hinterfragen und schließlich überwinden. Dafür lässt die 61-Jährige sie zum Beispiel ein Bild der Gesellschaft malen: Wer steht unten, wer oben? Hat der Politiker mehr Macht als der Journalist? Und wo finden sich Frauen wieder? Wo Menschen mit einer Beeinträchtigung? Die Eltern sollen auch lernen, ihre Wünsche zu artikulieren und ein positivere Rolle zu ihrem Kind zu finden. "Ziel ist, dass sie nicht immer nur das Defizit sehen, sondern wie toll ihr Kind ist."

Bevor sie das erste Mal eine Klasse besuchte, sagt Kerstin Schultes, habe sie Angst gehabt. Wie würden die Schüler reagieren, wenn sie hören, dass sie - eine Frau Anfang 40 - nicht mehr arbeiten kann? Würden sie sagen, sie hätte sich mehr anstrengen sollen, sich nicht so hängen lassen? All das, meint Schultes, kam nie. Dafür sitze in fast jeder Klasse einer, dem es genauso geht wie ihr als Jugendliche. "Einmal sagte ein Mädchen, dass es gerade vor der Entscheidung steht, ob sie ihren Schmerz mit Alkohol und Drogen wegspült. Oder ob sie eine Therapie beginnt", sagt Schultes. Da habe sie eine Gänsehaut bekommen.

© SZ vom 28.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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