Auswirkungen des Urteils:Hartz-IV-Empfänger müssen warten

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Die Münchner Harz-IV-Empfänger müssen sich in Geduld üben: 75.000 Menschen hoffen auf eine Gesetzesänderung im nächsten Jahr.

Sven Loerzer

Zwei Tage nach dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat sich die Welt jener rund 75.000 Münchner kaum verändert, die von Hartz-IV-Leistungen leben müssen. Auch die etwa 21.000 Kinder darunter, die vor allem von der Neuberechnung der Regelsätze profitieren dürften, müssen sich in Geduld üben. Denn das Gericht hat dem Gesetzgeber bis Ende des Jahres Zeit gelassen, die Regelsätze korrekt und nachvollziehbar neu zu ermitteln.

Nur 11,6 Prozent der Kinder unter 15 Jahren leben in München in Hartz-IV-Familien. In Berlin ist es mehr als ein Drittel aller Kinder. (Foto: Foto: AP)

Langzeitarbeitslose können dann den Blick nur skeptisch nach vorn richten: Vielleicht gibt es vom nächsten Jahr an mehr Geld, sicher aber nicht rückwirkend. Denn das Gericht hat dem Gesetzgeber ausdrücklich gestattet, davon abzusehen, weil das menschenwürdige Existenzminimum nicht offenkundig unterschritten werde. Und doch gibt es einen Lichtblick: Das Gericht erteilt Bestrebungen, den Rechtsanspruch auf Hilfe durch Almosen zu ersetzen, eine ganz klare Absage, wie Sozialreferent Friedrich Graffe betont: Der Staat muss das menschenwürdige Existenzminimum gesetzlich gewährleisten und darf nicht auf freiwillige Leistungen, etwa aus Spenden, verweisen.

Ein kleiner Teil von Hartz-IV-Beziehern kann sofort von dem Urteil profitieren. Denn die Richter ordneten an, einen besonderen, nicht nur einmaligen Bedarf im Einzelfall zu berücksichtigen. Das können beispielsweise Fahrtkosten sein, die entstehen, damit Kinder ihre getrennt und weit voneinander entfernt lebenden Eltern sehen können. Ein solcher besonderer Bedarf wird bei Sozialhilfe auch bezahlt, wenn etwa wegen Übergröße der Kleidungskauf teurer kommt oder der Wäschebedarf wegen Inkontinenz größer ist. Hinweise zum Vollzug wird die Bundesagentur für Arbeit wohl in Kürze herausgeben. Die Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung München (Arge) rechnet mit einer Flut von Anträgen auf besonderen Bedarf.

Unterdessen hat die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher, im Hinblick auf Kinder schnelle Hilfe gefordert: "Fahrtkosten bei getrennt lebenden Eltern, Teilnahme an Klassenfahrten, Nachhilfestunden, das brauchen Kinder zum Beispiel, um nicht ausgegrenzt zu werden." Vom Hartz-IV-Regelsatz lassen sich dafür keine Rücklagen bilden: "Das hat die Praxis gezeigt. Hier brauchen wir ganz schnell eine Verfahrensregelung", betont Mascher. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen müsse schnellstmöglich "eine gesetzliche Regelung auf den Weg bringen, die bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder vorsieht".

Ein Blick auf andere Großstädte zeigt, dass sich die Situation in München vergleichsweise günstig darstellt: Nur 11,6 Prozent der Kinder unter 15 Jahren leben in Hartz-IV-Familien - in Berlin mehr als ein Drittel aller Kinder. Während München früher wegen seiner hohen Lebenshaltungskosten die höchsten Sozialhilfesätze hatte, gilt seit 2005 ein bundeseinheitlicher Hartz-IV-Satz: Derzeit erhält ein Alleinstehender 359 Euro im Monat (zuzüglich Miet- und Heizkosten), für Kinder bis sechs Jahre 215 Euro, bis 14 Jahre 251 und darüber 287 Euro.

Bei der eigentlich auch diesen Vorgaben folgenden Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit, der heutigen Sozialhilfe, konnte die Stadt eine Ausnahmebestimmung zur beschränkten Erhöhung nutzen: Alleinstehende erhalten wegen der in München über dem bayerischen Durchschnitt liegenden Lebenshaltungskosten 384 Euro, auch für Kinder gibt es entsprechend mehr. Der Münchner SPD-Vorsitzende Hans-Ulrich Pfaffmann verlangt, bei Hartz IV "die besondere Situation der Großstädte zu berücksichtigen" und den Regelsatz "zur realistischen Bestreitung des Lebensunterhalts auf 420 Euro zu erhöhen".

Der tatsächliche Bedarf sei in München höher als anderswo, sagt auch die sozialpolitische Sprecherin der Rathaus-SPD und künftige Sozialreferentin Brigitte Meier. Grünen-Fraktionschef Siegfried Benker fordert als Minimum, "die Willkür bei der Berechnung der Hartz-IV-Sätze endlich zu beseitigen, realistischen Bedarf zugrunde zu legen und den Regelsatz auf wenigstens 420 Euro anzuheben". Jetzt biete sich die Chance, "eine breit klaffende Gerechtigkeitslücke zu beseitigen".

Wenig Aussichten auf Erfolg dürfte ein Antrag der Linkspartei im Rathaus haben, bis zur Neuregelung durch den Bund schon jetzt für Kinder "zu Lasten des Bundes" erhöhte Sätze zu zahlen, wie sie der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer Expertise errechnet hat. Weil nicht festgestellt werden könne, dass die geltenden Hartz-IV-Sätze offenkundig unzureichend sind, müsse der Bund sie nicht unmittelbar erhöhen, sondern bedarfsgerecht ermitteln und dann gesetzlich verankern, so das Gericht.

© SZ vom 11.02.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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