Gleichzeitigkeit fasziniert Hiroyuki Masuyama. Mit Hingabe schichtet er Zeitebenen aufeinander, vereint 18., 19. und 21. Jahrhundert in einer ganz eigenen, schwer zu fassenden Simultanität. Die LED-Leuchtkästen des japanischen Fotografen und Videokünstlers im Ismaninger Kallmann-Museum zeugen eindrucksvoll von seinen Reisen durch Raum und Zeit.
Der Künstler, 1968 in Tsukuba geboren und seit 1995 in Düsseldorf lebend, wandelte auf den Spuren Caspar David Friedrichs oder William Turners und suchte die Orte auf, die die beiden in Landschaftsbildern oder Stadtansichten festgehalten haben. Masuyama fotografierte die Originalschauplätze aus unterschiedlichsten Perspektiven und setzte am Computer aus Hunderten Fotos die Gemälde wieder zusammen. Es ist erstaunlich, welche Mühe er verwendet, Turners nahezu abstrakte Farbkompositionen mit den Mitteln der Fotografie nachzubilden. Freilich, auch Turners Bilder entstanden im Atelier, der britische Maler komponierte seine Arbeiten nach Skizzen und hatte keinerlei Problem damit, aus dramaturgischen Gründen eine Landschaft zu verändern. Er malte aus der Erinnerung, schließlich verstand er sich nicht als Dokumentarist - ebenso wenig wie sein deutscher Romantiker-Kollege Caspar David Friedrich. So gesehen ist es kein Widerspruch, dass Masuyama bis zu 400 digitale Bildschnipsel zu einer neuen Landschaft verschmilzt, die zwar einerseits der Vorlage unheimlich ähnelt, andrerseits aber eindeutig aus der Jetztzeit stammt und Selbsterlebtes mit einbezieht.
Die Zeitgenossenschaft ist oft erst auf den zweiten Blick zu entdecken. So gleicht der Blick auf die Rialtobrücke in Venedig zwar Turners 1840 entstandenem Bild. Doch die ungezählten Touristen, die sich schemenhaft auf der Brücke drängen, stammen aus dem 21. Jahrhundert. Die Reihung der 70 Bilder suggeriert zudem, Turner hätte eine zusammenhängende Reise unternommen, die von London über Köln, Heidelberg, Luzern nach Venedig und Rom führte, was nicht stimmt - Turners Bilder entstanden zu verschiedenen Zeiten. Aber die Hängung verdeutlicht ein anderes wichtiges Thema Masuyamas: das Reisen.
Auch Caspar David Friedrichs Werk erschließt sich der Fotograf auf eine ähnliche Weise. Was dessen "Greifswalder Hafen" von 1820 betrifft, so dümpeln zwar originalgetreue Segelschiffe am Kai. Aber am Ufer liegt neumodisches Schwemmgut, alte Autoreifen etwa und anderer Zivilisationsmüll. Die Übergänge zwischen den Jahrhunderten sind fließend, aber unübersehbar. Genauso nutzt Masuyama auch die Radierungen Giovanni Battista Piranesis, die er abfotografierte und wieder mit eigenen Aufnahmen ergänzte. Auch hier blendet er das aktuelle Straßenleben ein, weshalb sich zwischen die Menschen vor dem Forum Romanum im 18. Jahrhundert Autos schieben.
Unbedingt empfehlenswert ist es übrigens, in die einzige Skulptur der Ausstellung durch eine Einstiegsluke hineinzuklettern. 2820 Kirschholzelemente hat Masuyama für diese Kugel mit dem Namen "O" aneinandergeleimt, 30 000 winzige Löcher gebohrt und in dieselben Fiberglasstäbe gesteckt. Im Inneren erstrahlt ein prachtvoller, exakt aus Karten übertragener Sternenhimmel, den man sitzend oder liegend genießen kann.
Die Kugel-Skulptur passt gut zur "Weltreise", jenes schmale Leuchtkastenband, das Masuyamas Weltumrundung einfängt. In 42 Stunden flog er um die Erde, fotografierte alle 20 Sekunden aus dem Fenster und montierte aus den Tausenden Aufnahmen ein fast 30 Meter langes Panoramabild. An die Wände hat er die Namen von Städten gekritzelt, Frankfurt, Los Angeles oder Tokio, eine kleine Ortung im unendlichen Blau des Himmels, das von Sonnenauf- und -untergängen oder dunkler Nacht unterbrochen wird. Noch monumentaler ist die Installation "flowers". 22 Meter lang, aber 2,40 Meter hoch packt sie den Betrachter körperlich an, vermittelt ihm das Gefühl, in einer Blumenwiese zu stehen. Mehrere Jahre fotografierte Masuyama immer dieselbe Wiese zu unterschiedlichen Jahreszeiten. So blühen Tulpen neben Mohn und Johanniskraut, reifen Brombeeren neben von Raureif überzogenen Gräsern. Frühling, Sommer, Herbst - alles findet gleichzeitig statt.
Irgendwann landet man vor "Family Porträt", einer Videoarbeit, in der Masuyama nicht nur sich, sondern auch Frau, Sohn und Eltern festhält. Indem er Fotos aus verschiedenen Jahren übereinanderblendet, erzeugt er ein bewegtes Bild. Und die Gewissheit, dass Altern ganz schön schnell geht.
Hiroyuki Masuyama: Raum Zeit Reise ,Dienstag bis Sonntag, 14.30 bis 17 Uhr, Kallmann-Museum Ismaning, Schloßstr. 3b, bis 10. Mai