Arbeit der Forensiker:Im Bunde mit dem Schwerverbrecher

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Vertrauen lässt sich nicht erzwingen, sondern nur gewinnen. Deshalb hat der Psychiater Markus Schlie einen therapeutischen Pakt mit Hans Bauer (links) geschlossen. (Foto: Claus Schunk)

Hans Bauer ist ein psychisch kranker Straftäter und inzwischen auf freiem Fuß. Um Rückfälle zu verhindern muss er jeden Monat zu seinem Therapeuten. Doch auch der weiß nicht genau, wer der wahre Hans Bauer ist. Irren ist menschlich - doch ein Irren des Therapeuten kann Leben kosten.

Von Stefan Mühleisen

Totgedroschen. Hans Bauer zuckt mit den Achseln und nicht mit der Wimper, wenn er vom Totdreschen erzählt. "War schließlich ein Pädophiler." So sei das im Gefängnis, "da machst du mit oder du bist weg". Ums Überleben gehe es da. Der blasse Mann mit den gegelten Haaren und der Designerbrille verschränkt die Arme hinterm Kopf. Wissendes Lächeln, selbstbewusste Pose. Er genießt die Drastik dieser Erinnerung, dieser Szene, als er auf einen Mithäftling einprügelte.

Die ganze Haltung, der grobe Ton, die brutale Story - dieser Mann, verurteilt wegen zweifacher Geiselnahme, gefährlicher Körperverletzung sowie Totschlags durch Unterlassung, scheint stolz zu sein auf seine Erfahrung. Ein psychisch kranker Straftäter, seit fünf Jahren in Freiheit unter Führungsaufsicht. Sein Therapeut Markus Schlie lässt es ihm durchgehen. "Ich vertraue ihm. Doch es bleibt immer eine Restunsicherheit, dass er nur eine Show abzieht."

Ein Vormittag in einem schmucklosen Büro der Forensischen Ambulanz auf dem weiten Gelände des Isar-Amper-Klinikums im Münchner Vorort Haar. Patient Hans Bauer (Name geändert) erklärt sich vor seinem monatlichem Therapeutentermin bereit für ein Einzelgespräch. Elf Jahre war er in der geschlossenen Psychiatrie; jetzt ist er einer von 300 psychisch kranken Straftätern, die in Haar unter Führungsaufsicht stehen und sich regelmäßig in der Ambulanz melden müssen.

Gutachter haben entschieden, dass sie nicht mehr gemeingefährlich sind; dennoch hängen die Entlassenen immer noch an der langen Leine des Maßregelvollzugs: Therapeuten überwachen den Lebenswandel der Mörder, Vergewaltiger und Totschläger. Das soll Rückfälle verhindern. Doch wie kann man sicher sein, dass sie nicht doch eine Show abziehen und bei nächster Gelegenheit wieder austicken?

Erstaunlich ist etwa, wie bei Hans Bauer die eitle Pose bröckelt, wenn man ihm nach der Totdresch-Anekdote, von der unklar bleibt, ob sie wahr ist oder nicht, eine einfache Frage stellt: Glauben Sie, dass Sie noch eine Gefahr für die Allgemeinheit sind?

Da zuckt er dann mit der Wimper. Plötzlich sitzt da der Mann, wie er im psychopathologischen Befund beschrieben wird: leicht irritierbar, latente Selbstüberschätzung, massive Versagensgefühle. Der Tonfall ist jetzt stottrig, er rutscht auf seinem Stuhl herum. Bauer gesteht, dass sein Therapeut Schlie ihn jederzeit in die Gefängnis-Hölle zurückschicken kann, wenn er, Bauer, auch nur den kleinsten Mist baut. "Ich werde ihn nicht enttäuschen", versichert der 41-Jährige. Sein Blick schweift über die Zimmerdecke, er sucht nach der richtigen Formulierung. "Es tut mir leid, dass ich den Typen getötet habe", sagt er.

Ach wirklich? Erst die Geschichte vom harten Zuchthäusler, dann die Bekenntnisse eines reuigen Sünders. Wie passt das zusammen, welcher Hans Bauer ist echt? Wie soll man sichergehen, dass dieser psychisch kranke Schwerverbrecher wieder frei herumlaufen darf? In München steht derzeit der Sexualstraftäter Andreas R. vor Gericht; nach der Entlassung aus der Sicherungsverwahrung stand er zwar unter Führungsaufsicht mit Fußfessel, soll aber dennoch ein Mädchen missbraucht haben. Irren ist menschlich, doch ein Irrtum der Forensiker kann Menschenleben kosten.

Die forensische Psychiatrie befasst sich mit psychisch kranken Straftätern, denen Gutachter die fehlende Schuldfähigkeit attestiert haben. Die rechtliche Grundlage: Diese Täter haben ihre Delikte begangen, weil sie psychisch krank sind oder unter Drogeneinfluss standen. In Bayern gibt es 14 forensische Kliniken, im Jahr 2011 wurden insgesamt 2457 Maßregelvollzugspatienten behandelt, bundesweit waren es 10 663 - mehr als doppelt so viele wie noch 1995 (4753).

Der Anstieg liegt einerseits an der Verschärfung der Gesetze, andererseits wohl auch schlicht daran, dass Gerichte mehr psychiatrische Gutachten anordnen - und so offenkundig mehr krankhaft motivierte Täter identifiziert werden.

Nach der geschlossenen Abteilung und mehreren Lockerungsstufen werden sie unter Auflagen entlassen; ein Gericht legt die Dauer der Führungsaufsicht fest (zwischen zwei und fünf Jahren) und formuliert bestimmte Auflagen - etwa die Behandlungspflicht in einer Ambulanz wie der in Haar. Nach Angaben des Leiters der dortigen Forensik, Herbert Steinböck, liegt die Rückfallquote jener, die nach der Maßregel von der Ambulanz begleitet werden, bei unter zehn Prozent. Die Bilanz des normalen Strafvollzugs ist schlechter: Laut Steinböck begehen mehr als die Hälfte der Häftlinge, die aus Gefängnissen entlassen wurden, wieder kriminelle Taten. Doch der Weg zum Erfolg ist lang.

Zum Schwerverbrecher wird Bauer im April 1996: Er nimmt seine Eltern in deren Haus als Geiseln, zückt ein Butterfly-Messer, fordert Geld. Er ist 25 Jahre alt, hochgradig drogenabhängig und hat drei Suizidversuche hinter sich. Die Heroinspritzen finanziert er sich als Stricher. Die Eltern können ihn abwimmeln, Bauer zieht los auf eine Sauftour und trifft in einem Lokal sein späteres Opfer - eine Zufallsbekanntschaft. Nach einem Streit sticht Bauer auf den Mann ein und flüchtet. Der Mann verblutet bei Eiseskälte. Das Landgericht München II fällt am 24. März 1997 das Urteil: neun Jahre Haft sowie Unterbringung in der Psychiatrie. Die Diagnose: Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, selbstunsicheren und antisozialen Zügen.

Solche Menschen empfinden kaum Empathie für andere, haben aber permanent Angst, als Versager dazustehen. Sie plustern sich auf, sind aggressiv und leicht reizbar, um ihr fehlendes Selbstwertgefühl zu übertünchen. Das Zuschlagen fällt leicht, Schwäche einzugestehen, dagegen schwer.

Markus Schlie ist Oberarzt der Forensischen Ambulanz in Haar und behandelt Bauer seit dessen Entlassung. Der Psychiater mit der runden Nickelbrille und dem Kapuzenpulli sitzt in seinem Büro und schaut durchs Fenster seinem Patienten hinterher. Nach einer Stunde Gespräch mit ihm ist er heute zufrieden.

Bauer ist Schlies Vorzeigepatient, er hat sogar einen Aufsatz über ihn in einem Sammelband über Maßregelvollzug veröffentlicht. "Er steht im Leben, hat in den letzten Jahren zahlreiche Krisen durchlebt, hat zunehmend Verantwortung übernommen, Kompetenzen gezeigt, ist selbständiger, selbstsicherer geworden", schreibt er als Fazit. Wie kann das gelingen? "Mit einem therapeutischen Bündnis", sagt Schlie.

Das heißt: Hans Bauer weiß, dass sein Therapeut kraft Paragraf 67h Strafgesetzbuch ("Befristete Wiederinvollzugsetzung") die Möglichkeit hat, ihn per Gerichtsbeschluss wieder in die geschlossene Psychiatrie einzuweisen. Prophylaktisch gewissermaßen. "Wenn ich merke: Der gleitet wieder ab in alte Verhaltensmuster oder nimmt Drogen", sagt der 48-jährige Oberarzt.

Auf der anderen Seite kann Schlie aber nicht permanent die Paragrafenkeule schwingen. Denn es geht darum, mit therapeutischer Hilfe Vertrauen aufzubauen. Und das lässt sich nicht erzwingen, sondern nur gewinnen. So muss Schlie auch mal Ausrutscher verzeihen, ohne jedoch die Zügel zu locker zu lassen. Das wiederum ermutigt den Patienten zur Offenheit, den therapeutischen Pakt einzulösen.

Immer wieder in diesen fünf Jahren ist Bauer auf der Kippe gestanden: Mehrmals verliert er seine Arbeitsstelle, seine Partnerschaften enden im Chaos. Mal ist er bei den Treffen ausgeglichen und heiter, mal unruhig und aufbrausend. "Wenn er von Reue spricht, wirkt das noch heute unecht und künstlich", sagt Schlie. Er weiß noch immer nicht genau, wer der echte Bauer ist: das Großmaul, das sich mit Knast-Geschichten aufplustert, oder der Reflektierte, der sich seiner Schuld bewusst ist. Bauer habe beides in sich, sagt Schlie. Er muss deshalb wie ein Luchs aufpassen, konsequent Grenzen setzen, notfalls unnachgiebig sein. Er muss aber auch tolerant sein, manchmal großherzig über kleine Entgleisungen hinwegsehen.

Das zehrt an den Nerven, der Therapeut muss damit leben, dass er und die Bewährungshelferin sich doch irren können. "Letztlich zählt, dass er die Kurve gekriegt hat und nachweislich Selbstverantwortung für sein Leben entwickelt hat", sagt Schlie. Bisher kam es zu keinem nennenswerten Rückfall, das Bündnis hält, auch Schlie hält es ein. Und er sagt in exakt denselben Worte wie sein Patient: "Ich werde ihn nicht enttäuschen."

© SZ vom 31.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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