Analyse zur Landtagswahl:Grüner wird's nicht

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"Wir haben das Lebensgefühl der bürgerlichen Mitte getroffen" - so erklären sich die Grünen, dass sie in München zur stärksten Kraft wurden. Mit welchem Abstand, das überrascht sie selbst. Sie haben mehr Nichtwähler für sich gewonnen als alle anderen Parteien zusammen

Von Heiner Effern und Silke Lode, München

Ludwig Hartmann muss als erfolgreicher Spitzenkandidat und Erststimmenkönig der Grünen gerade viele Fragen beantworten. Zu den meisten Themen weiß er auch etwas zu sagen, aber jetzt muss er passen. Warum seine Partei in München nicht nur ein gutes, auch kein sehr gutes, sondern für viele ein immer noch unfassbar gutes Ergebnis erreicht habe, das kann auch er nicht bis ins Letzte erklären. Man habe schon geahnt, dass hier mehr möglich sei als bei den Wahlen zuvor, sagt Hartmann. Und er äußert eine These, die zumindest ein sehr gutes Ergebnis erklärt. "Wir haben das Lebensgefühl der bürgerlichen Mitte getroffen."

Interessant ist, dass diese These nicht nur bei den Grünen geäußert wird. Auch die CSU versucht, sich so ihren Absturz zu erklären: "Wir haben nicht das Lebensgefühl in der Stadt abgebildet", sagt Robert Brannekämper, CSU-Kreischef in München-Nordost, der seinen Landtags-Stimmkreis Bogenhausen verteidigt hat. "Den Grünen wurde dieses Lebensgefühl eher zugeschrieben."

Diese Münchner, die sich von den Grünen offenbar angesprochen fühlen, leben gut und wirtschaftlich oft erfolgreich, sind meist weltoffen und europafreundlich, merken aber, dass die Stadt an einem Punkt angekommen ist, an dem sich etwas ändern muss.

Sie erleben täglich, dass in der U-Bahn kein Platz mehr frei ist, dass Radwege voll sind, dass Hortplätze fehlen, dass sie froh sein müssen, nicht umziehen zu müssen, weil sie sich trotz ihres ordentlichen Einkommens ihre Stadt sonst nicht immer leisten könnten. Sie hören, dass die Luft nicht sauber wird, wollen aber, dass endlich etwas passiert. Sie legen Wert darauf, zu wissen, wo ihre Lebensmittel herkommen und bezahlen dafür auch. Die größte Bio-Supermarkt-Dichte in München dürfte nicht zufällig in Hartmanns Stimmkreis Mitte rund um den Weißenburger Platz zu finden sein.

Wie sehr sich viele Münchner eine neue Politik wünschen, zeigen auch die Großdemonstrationen diesen Sommer und Herbst in München: So oft hintereinander und so zahlreich gingen in der Stadt wohl noch nie so viele Menschen für so viele unterschiedliche Themen auf die Straße: gegen das Polizeiaufgabengesetz, gegen die Stimmungsmache gegen Ausländer und Minderheiten, für eine verträglichere Landwirtschaft. Die Grünen positionierten sich bei all diesen Themen als junge und veränderungswillige Alternative zur CSU. Auch die SPD versuchte, auf diese Weise zu punkten, allerdings ohne damit beim Wähler anzukommen.

CSU und SPD stehen für die Menschen, die Neues wollen, für das Alte. Sie regieren zusammen im Bund und im Münchner Rathaus, die CSU bisher alleine in Bayern. Sie stehen für Zustände, die sich nicht ändern. Für viel politischen Streit gerade im Bund, bei dem nichts herauskommt. Außer dem Gefühl, dass sich die Spirale aus unsicher, schneller, teurer ständig beschleunigt. Da haken die Grünen ein. "Wir wollen kein Wachstum um des Wachstums willen", sagt Hartmann. "Man darf das auf keinen Fall befeuern." In einer wachsenden Stadt mit einem Wettstreit um jede Fläche kann es nicht mehr Wohnungen, mehr Grünflächen und mehr Gewerbegebiete geben. Irgendwer muss etwas verlieren. Die Grünen nennen als einen Grund ihres Erfolgs, dass sie sich dabei festlegten, auch wenn das Wähler schmerze oder verprelle: Die Autofahrer müssen etwa Fahrspuren für Radfahrer und den öffentlichen Verkehr abgeben. Wo es grünt, wird nicht gebaut. 30 Prozent der Münchner tragen das nun mit.

Dass die Grünen Menschen ansprechen konnten, die mit der Politik und vielleicht auch mit ihrem Leben unzufrieden sind, zeigt auch der Zustrom von den Nichtwählern. 65 000 Zweitstimmen haben sie laut einer Analyse der Stadt nur von Menschen bekommen, die zuletzt nicht gewählt haben. Sie haben weitaus mehr Nichtwähler an die Urnen gelockt als alle anderen Parteien zusammen. "Anscheinend haben wir es geschafft, Hoffnung zu wecken", sagt Gülseren Demirel, die für die Grünen den Stimmkreis Giesing gewonnen hat.

Für den langjährigen Münchner Grünen-Politiker Hep Monatzeder, der möglicherweise über die Liste in den neuen Landtag einziehen wird, bildet dieses Ergebnis eine viel grundsätzlichere Entwicklung ab: "Wir konnten die Nichtwähler durch unsere Themen mobilisieren, das korreliert mit einer Politisierung der Gesellschaft." Seit Jahrzehnten habe er nicht mehr so viele Menschen auf der Straße gesehen wie in diesem Herbst. "Da geht mir als Alt-68er das Herz auf", sagt Monatzeder. "Die Zeiten, als alle durch Merkel eingelullt waren und alles so schön dahin lief, sind vorbei."

Allerdings räumt Monatzeder ein, dass die Grünen auch von den Fehlern der anderen Parteien profitieren konnten: "Der liberale CSU-Flügel hat sich abgestoßen gefühlt von der Brutalität der Worte, die bis hin zur Parteispitze und vom Ministerpräsidenten gebraucht wurden." Und die schwächelnde SPD hat den Grünen laut der KVR-Analyse weitere 86 000 Wählerstimmen eingebracht. All das zusammen führte dazu, dass die Grünen stärkste Partei in der Stadt sind und fünf der neun Direktmandate gewannen. Hartmann sogar mit 44 Prozent der Erststimmen, einer Zahl, die nicht nur er immer noch kaum fassen kann.

© SZ vom 16.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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