Amnesty International:Gelber Gänsemarsch gegen Folterknechte

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Jutegeruch, linke Gutmenschen oder Altachtundsechziger: Die Jahresversammlung von Amnesty International zeigt, das Klischee ist überholt und erstaunlich viele junge Leute engagieren sich.

Bernd Kastner

Unten, wo das Foyer am düstersten ist, sitzt Matthias Thiel. Er bewacht die Treppe nach oben, dorthin, wo sie beraten und diskutieren. Nur Mitglieder dürfen durch. "Für mich", sagt Thiel und erklärt, warum er einen Teil dieses wunderbaren Pfingstwochenendes im Halbdunkel verbringt, "für mich ist Demokratie nichts Selbstverständliches."

Menschenrechte? Leider immer noch nicht selbstverständlich. Und so macht AI weiter. (Foto: Foto: Catherina Hess)

Er ist 38, in der DDR geboren und heute einer von Dutzenden Organisatoren, die die Jahresversammlung von Amnesty International (ai) ermöglichen. Gut 500 Menschenrechts-Aktivisten aus ganz Deutschland sind für ein Wochenende nach München in die Mensa der Technischen Universität gekommen, um die Politik der weltgrößten Menschenrechtsorganisation zu diskutieren und den Machthabern auf die Finger zu sehen.

Birkenstock sind out

Thiel berichtet, wie sie einst in der DDR seinen Vater gegängelt haben, und wie er sich später im Philosophiestudium einen aristotelischen Leitsatz zueigen gemacht hat: Wenn es möglich ist, die Welt zu verändern, dann kann man sie auch verändern - durch Aktivität.

Manch einer belächelt Amnesty-Mitglieder, denkt vielleicht an linke Gutmenschen und grau gewordene Altachtundsechziger. Wie wäre der erstaunt, käme er ins Plenum der Versammlung. Dort, wo sonst die Studenten ihr Essen löffeln, sitzen mehrere hundert, vorwiegend junge Leute. Es riecht nicht nach Jute, und kaum einer trägt Birkenstock.

Auf den Tischen liegen Berge von Papier, grün und blau und rosa sind die unterschiedlichen Stapel, dazwischen Wasserflaschen und Kaffeetassen. Vorne, über dem Podium und neben den Cola-Automaten, leuchtet die Tagesordnung von der Wand: Geschäftsordnung, Antragskommission, Kandidaten für den Vorstand, Finanzbericht, Entlastung des Vorstands - trockene Vereinsformalia scheinbar.

Umso erstaunlicher, wie konzentriert die meisten in der schwülen Luft bei der Sache sind, kaum einer plaudert mit dem Nachbarn. Zwischen den Tischreihen hängen die Werbeplakate eines Mobilfunkbetreibers, er preist seine Superflatrate an: "Make the most of now." Vielleicht könnte das ein Motto für die ai-Arbeit sein: Das Beste aus einer Welt machen, die dominiert ist von Terror und Terrorbekämpfung, in der Menschenrechte oft lästig erscheinen.

"Schön, sehr schön!"

An den Saalmikrofonen bilden sich kleine Schlangen, es klingt, als diskutieren sie gerade übers Geld, am Mikro sagt einer was von "Ressourcen für die Jugendarbeit".

"Schön, sehr schön!", wird später Stefan Keßler ausrufen. So viele junge Leute in einer Organisation, die exakt vor 46 Jahren in England gegründet wurde. Keßler ist der alte und wiedergewählte Sprecher des ai-Vorstands, er repräsentiert zusammen mit der Generalsekretärin Barbara Lochbihler die Organisation. Jetzt steht er auf der Arcisstraße, während an ihm vorbei eine schier endlose Schlange von Menschen in gelben Ponchos vorbeizieht.

Trillerpfeifen im Mund, einen Brief in der Tasche gehen 500 Aktivisten zur Bahnhofspost, um dort Briefe in alle Welt zu verschicken. In jedem Umschlag klebt ein Schlüssel, Symbol dafür, die Gefängnistüren für gewaltlose politische Gefangene zu öffnen. Die Mächtigen in der Türkei, in Tunesien und in den USA werden diese Schlüssel demnächst auf dem Schreibtisch haben.

Man weiß von untergegangenen Regimen, etwa in Südafrika, wie akribisch diese Appellpost gesammelt, archiviert und mitunter befolgt wird. "Diese Aktionen können die Regierungen nicht ignorieren", sagt Olga Spaiser, eine 23-jährige Politikstudentin.

Keine Ochsentour

Stefan Keßler schaut zufrieden auf den gelben Gänsemarsch. Da klagen die politischen Parteien über fehlenden Nachwuchs, und hier strömt die Jugend zu einer Organisationen wie Amnesty. Vielleicht, überlegt Keßler, liege das an der größeren Flexibilität, daran, dass fürs Mitmachen und Mitbestimmen keine Ochsentour durch die Gremien nötig ist, dass man, je nach Lebenslage, auch mal aussteigen könne, um Jahre später wieder zurückzukommen.

Herbert Veit hat auch einen gelben Poncho übergezogen, wie allen läuft ihm der Schweiß in Strömen hinab. Veit aber ist kein ganz Junger mehr - seit 34 Jahren macht er bei Amnesty in der Krailinger Gruppe mit. "Es ist wichtig, sich für andere Menschen einzusetzen", sagt er. Mehr Begründung für sein Engagement braucht er nicht.

Es freut auch ihn, dass die ai-Jugend so aktiv ist, aber: In den Ortsgruppen seien es schon auch die Älteren, die Treuen, welche die Arbeit erledigen. Die aber scheuen oft die lange Reise und die anstregende Jahrestagung, deshalb werde die von den Jungen dominiert.

Tausende Bettelbriefe

In Krailing, sagt Veit, sind sie sehr mit Geldbeschaffung beschäftigt, denn der Einsatz für Eingesperrte und Gefolterte kostet viel. Also verschicken sie Bettelbriefe, immer und immer wieder. Bei 1000 Angeschriebenen bleiben vier, fünf als Unterstützer hängen. Die blieben dann meist über Jahre.

Langsam schlängelt sich der Demozug durch die Stadt. "Schließt Guantanamo!" steht auf einem Plakat. Ein anderes fragt: "Wo sind die Verschwundenen?" Vorbei geht der gelbe Gänsemarsch am Luisengymnasium. Dort haben sich an die hundert junge ai-ler in der Turnhalle einquartiert: Isomatte, Schlafsack, Waschsaal. Günstig muss das Übernachten sein, die Reise quer durch Deutschland ist teuer genug.

Ja, ja, die Kanzlerin hat neulich dem russischen Präsidenten ganz im Sinne von Amnesty die Meinung gesagt, sagt ai-Sprecher Keßler. Aber sonst? Was war mit dem Bundespräsidenten, als er neulich in China war? Und was, vor allem, ist mit der EU? Viele schöne Worte, aber kaum konkrete Menschenrechtspolitik.

Und dann, sagt Keßler, sei da noch etwas, was ihn sehr beruhige: die Folterdiskussion. Zwar sei die nach dem "Fall Daschner" in Frankfurt, der Gewaltandrohung der Polizei gegen einen mutmaßlichen Kindermörder, weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden, doch in Juristenkreisen werde ausführlich über die "Rettungsbefragung" debattiert. "Wenn man die Tür einmal aufmacht . . ." Der ai-Chef lässt den Satz unvollendet.

Zurück in der Mensa. Im Foyer türmen sich jetzt die abgelegten gelben Ponchos, oben, im großen Saal, diskutieren sie nun drei Tage lang. Durch die Halle fliegen Kürzel wie S5, IS oder WSK, die nur eingefleischte Aktivisten übersetzen können.

Sie verabschieden Resolutionen, kritisieren die europäische Flüchtlingspolitik und fordern die Bundesregierung zu Taten auf. Wie hat Matthias Thiel, der Mann aus der DDR, vorhin gesagt: Würde man den Mächtigen und ihren Folterknechten nicht ständig auf die Füße treten, es würde ihre Macht nur noch verstärken.

© SZ vom 29.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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