Adventskalender finanziert Schülerlunch:"Wie soll man mit leerem Bauch lernen?"

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Mit dem "Schülerlunch" unterstützt der Adventskalender fünf Jahre lang fast 1000 Münchner Kinder. Immer mehr arme Familien können das Mittagessen in der Schule nicht mehr bezahlen - Die SZ hilft.

Monika Maier-Albang und Sven Loerzer

Der Mann, der das Essen bringt, kommt sonst immer Punkt zwölf. Nur heute hat er ein Problem: Die Kupplung seines Wagens streikt. So graben sich die Mädchen von der Hauptschule an der Schleißheimer Straße mit knurrenden Mägen in das orangefarbene Sofa, das in ihrem Mittagstreff-Raum steht - und warten. Und warten. Und warten.

Bis die Tür aufgeht und ein dunkelhäutiger Mann, den sie den "Mann mit der schwarzen Box" nennen, ins Zimmer eilt. Die Mädchen freuen sich, die Jungs eilen vom Fußballspiel zurück. Aristo, der Austräger, stellt seine Warmhalte-Box aus Styropor auf die Spüle. Eine Sekunde später stehen die Schüler brav an, um sich die Teller füllen zu lassen. Da ist Aristo vom "bärenstarken Essensservice" längst zur Tür hinaus. Draußen wartet das Taxi.

Gebracht hat er Putenfleischbällchen mit Bio-Reis. Die Bällchen schwimmen in einer undefinierbaren gelben Sauce. Zu schmecken aber scheint es gut. Und wie immer, wenn es beliebtes Essen gibt, teilt einer der Erzieher aus, damit jeder genug bekommt. Manchmal bleibt ein Rest übrig. Und nicht selten wartet draußen jemand vor der Tür, der Hunger hat, aber nicht angemeldet ist zum Mittagessen.

Dann steht Jutta Nikolai, die Sozialarbeiterin der Moosacher Ganztagsschule, vor einem Problem. Soll sie den Schüler wegschicken? Das kann sie kaum. Aber sie will auch nicht, "dass es einreißt". Die anderen Eltern zahlen schließlich auch. 40 Euro kostet das Mittagessen immerhin pro Monat. Das ist nicht wirklich viel für vier warme Mahlzeiten in der Woche. Und doch zu viel für manche. Es falle, sagt Nikolai, einigen Eltern schwer, den Betrag aufzubringen. Andere schaffen es gar nicht.

Abgerutscht ist man schnell

Im kommenden Schuljahr müssen sie den Essensbeitrag auf 50 Euro aufstocken. Als die Eltern davon erfuhren, sind einige in der Versammlung ganz blass geworden. Lehrerin Nikolai kennt die Familien, wo trotz Dauerauftrag das Geld nicht pünktlich überwiesen wird, weil das Konto leer ist. Doch wenn sie nachfragt bei den Eltern, muss sie es mit Umsicht tun - damit es nicht zu Panikreaktionen kommt und das Kind nicht gleich abgemeldet wird. "Das wäre in jedem Fall der schlechtere Weg", sagt sie.

Die Zahl der Überbrückungshilfen ist begrenzt. Und schwierig wird es, wenn eine Familie dauerhaft in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Nikolai erzählt von alleinerziehenden Müttern, für die sie immer wieder Hilfsmittel auftreibt, und von Familien, bei denen der Ernährer die Arbeit verloren hat: "Dann geht es ganz schnell, dass man abrutscht."

Es sind solche Fälle, bei denen der SZ-Adventskalender nun helfen will. Mit den 1,7 Millionen Euro aus einer Erbschaft und der logistischen Unterstützung der Stadt sollen künftig bis zu 1000 Kinder mittags ein warmes Essen bezahlt bekommen; das Geld fließt über das Sozialreferat, die Sozialbürgerhäuser und die Schulen.

Das Problem ist in den vergangenen Jahren immer mehr angewachsen. Fast 19 000 Münchner Kinder im Alter bis zu 15 Jahren leben mit ihren Familien von Hartz-IV-Leistungen. Meist sind die Eltern arbeitslos. Doch auch immer häufiger reicht das Arbeitseinkommen nicht mehr aus, um die Familie zu ernähren, weshalb es durch Hartz-IV-Gelder bis zu dem vom Staat zugestandenen Bedarf aufgestockt werden muss.

Für Kinder im Alter bis 13 Jahren beträgt dieser monatlich 208 Euro, von 14 Jahren an 278 Euro im Monat. Das muss aber für alles reichen, was Kinder so brauchen: Essen, Kleidung, Schuhe, Spielsachen, aber auch für Schulmaterial und sogar für die anteiligen Stromkosten. Das Kindergeld gibt es übrigens nicht zusätzlich, sondern es wird auf den Bedarf des Haushalts angerechnet und von der Hartz-IV-Summe abgezogen.

Mehr als jedes vierte Kind, das eine Krippe besucht und fast jedes dritte Kind in einem Kindergarten oder Hort ist inzwischen von den Besuchsgebühren befreit, weil das Jahreseinkommen der Eltern weniger als 15.000 Euro beträgt.

Trotzdem schaffen es viele Eltern nicht einmal dann, das zusätzlich zur Besuchsgebühr zu bezahlende Verpflegungsgeld - in städtischen Kindergärten 58 Euro und in städtischen Horten 62 Euro pro Monat - aufzubringen. "In den Schulen und Kindertageseinrichtungen fällt uns zunehmend auf, dass Eltern das Mittagessen für ihr Kind nicht mehr zahlen können", sagt Sozialreferent Friedrich Graffe. Beim Essen sind die Schüler dann nicht mehr dabei, stehen auf der Straße herum oder müssen - eine demütigende Situation - vor der Schulkantine warten, bis ihre Klassen- oder Hortkameraden aufgegessen haben.

Im Herbst und Winter zeigt sich oft, dass die Kinder nicht ausreichend warm gekleidet sind. Bei Schulfahrten oder -ausflügen, Kursen und Projekten tauchen die Kinder gar nicht erst auf, weil für solche Ausgabenposten gar kein Geld da ist. Das Essensgeld reißt da erst einmal ein tiefes Loch in die Haushaltskasse, zumal wenn noch andere Belastungen hinzukommen, wie Ausgaben im Krankheitsfall.

Ganz erlassen kann die Stadt das Essensgeld nur ausnahmsweise, bei "besonderen sozialpädagogischen Notlagen", wenn das Kindeswohl unmittelbar gefährdet ist. Das sind wenige Fälle. Fast 3000 Kinder, die Horte, Kindergärten oder Tagesheime besuchen, müssen nur den halben Satz für das Essensgeld zahlen, also etwa 30 Euro pro Monat, weil die Eltern am Existenzminimum leben. Dennoch können viele nicht zahlen - weshalb Eltern Kinder vom Mittagstisch ab- oder gar nicht erst dazu anmelden.

"Am Geld aber darf's doch nicht scheitern, dass du eine gute Schülerin sein kannst." Das hat Jutta Nikolai zu Jana Selinek (Name geändert) gesagt. Das Mädchen kommt in die siebte Klasse, ihr Vater ist seit zwei Jahren arbeitslos. Elektriker ist er, hatte einen guten Job bei einer großen Firma. Doch nun bewerbe er sich seit Monaten erfolglos, erzählt die Tochter. "Die meisten antworten nicht einmal." Die Familie stammt aus der Türkei, die Mutter hat sich um die drei Töchter gekümmert und nie einen Beruf erlernt. Jetzt nimmt sie an einem Deutschkurs teil - in der Hoffnung, dass wenigstens sie Arbeit findet.

Chips und Cola

Der Regelsatz für das Arbeitslosengeld II für jedes der beiden Elternteile sei nicht ausreichend, ebenso wenig wie die Sätze für die Kinder, sagt Graffe, der sich seit dem Start von Hartz IV für eine Erhöhung um 20 Prozent einsetzt.

Die Preiserhöhungen bei Lebensmitteln seien ein weiterer Mosaikstein, der belege, "dass der bundeseinheitlich festgesetzte Regelsatz zu knapp bemessen ist". Seit der Festlegung ist viel passiert - Gesundheitsreform, Strompreiserhöhungen, höhere Mehrwertsteuer. Graffe: "Wenn nun noch Grundnahrungsmittel wie Milch teurer werden, dann werden Kinder noch ungesünder ernährt. Das führt zu Spätfolgen."

Über Mittag kann Jana nicht von der Schule heimfahren - der Weg ist zu weit, die Zeit reicht dazu nicht. Im Laden um die Ecke trifft sie dann andere, die in derselben Lage sind. Die Kinder kaufen Chips und Cola - und sind wieder hungrig, kaum dass der Nachmittagsunterricht begonnen hat. Nicht immer liegt es nur am Geld, dass die Kinder nicht vernünftig zu Mittag essen. Nikolai hat auch den Eindruck, dass viele Eltern zunehmend überlastet sind. Manche haben zwei Jobs oder Schichtarbeit, um über die Runden zu kommen. "Da liegt das Augenmerk nicht auf dem, was das Kind braucht" - gesundes und leckeres Essen, das satt macht. Denn wie, fragt Nikolai, "soll man auch noch am Nachmittag Leistung in der Schule bringen, wenn man nichts im Bauch hat?"

© SZ vom 8.09.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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