Abschied:Die andere Seite der Stadt

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Das Wichtigste zu aktuellen Nachrichten, Kultur und Gastronomie? Gab's woanders. Eine Liebeserklärung an die jetzt.de-Münchenseite

Von Mercedes Lauenstein und Juri Gottschall

Eigentlich hat diese Seite keiner gebraucht. Das Wichtigste zu aktuellen Nachrichten, Kultur und Gastronomie deckt schließlich tagtäglich die München-Redaktion ab. Darüber hinaus gibt es die Junge-Leute-Seite, auf der einmal die Woche Münchner Jungautoren oder Schüler schreiben, und die regelmäßig interessante, junge Münchner Persönlichkeiten vorstellt. Die Aufgabe der jetzt.de-Münchenseite in diesem Angebot? Keine Ahnung. Und deshalb haben wir, Mercedes Lauenstein und Juri Gottschall, sie so geliebt. Wir haben zwar nicht jede Seite bespielt. Oft haben auf der Münchenseite auch andere Autoren völlig andere Geschichten geschrieben, die journalistischer und ernsthafter waren als unsere, politischer, vielleicht, wenn man will: relevanter. Auf jeden Fall aber: aktueller.

Aber wenn das gerade nicht der Fall war, dann waren wir der Fall. Und wir durften auf der jetzt-Münchenseite veranstalten, was uns anderswo kein Mensch mehr als Journalismus abgekauft hätte. Weil es oft eher ein Hybrid aus anthropologischer Alltagsforschung, Kunstprojekt und poetischen Spazier-Reportagen war. Gerne auch ohne einen Anlass, der über den Impuls "Uns interessiert das" hinausging.

Wir sind zum Beispiel eine ganze Sommernacht auf dem Fahrrad durch München gefahren, nur, um diesem Gefühl des nächtlichen Radelns in der Stadt hinterherzufühlen. Wir sind in der Dunkelheit durch den Englischen Garten gelaufen oder spät abends durch Universitäten und Bibliotheken spaziert. Einfach um nachzusehen, wer oder was da sonst noch ist. Wir haben einen ganz Tag lang in der Tram 19 verbracht, wir haben Trampelpfade gesucht und über ihr Wesen philosophiert. Eine Zeit lang waren wir Klingelschild-Lektüre-süchtig. Eine Zeit lang sind wir regelmäßig in die Stadtviertel gefahren, die niemand in einen Reiseführer über München schreiben würde und haben uns gefragt, was an denen eigentlich so schlecht sein soll.

Wir sind fetischhaft irgendwelchen Mikro-Beobachtungen im Urbanen hinterhergestiegen. (Foto: Daniela Rudolf)

Wir haben Menschen, die auf öffentlichen Plätzen rumhängen, gefragt, was sie einander gerade erzählen, wir haben Kaugummis auf dem Bürgersteig gezählt und Schichten um Schichten alter Plakate an Litfaßsäulen abgetragen. Wir haben uns auf die Suche nach alten Schlecker-Filialen und ihren Geheimcodes gemacht. Wir haben auf den Feldern vor der Stadt das Sommerloch gesucht. Und immer wieder haben wir Menschen gefragt, was sie an der Straße, in der sie leben, so lieben.

Kurz: Wir sind fetischhaft irgendwelchen Mikro-Beobachtungen im Urbanen hinterhergestiegen. Und wir haben es irgendwie hingekriegt, das auch noch in die Zeitung zu drucken. Woche um Woche. Und das Beste daran: Es hat nicht nur uns gefallen. Immer wieder gab es sehr viel Lob von Lesern dafür, dass unsere Geschichten eben nicht so waren, wie der Rest der Zeitung. Was natürlich auch aus der komfortablen Position heraus kam, dass es uns für das ganze Aktuelle eben nicht gebraucht hat.

Wer genauer hinschaut, sieht München anders - auf Aufklebern und Klingelschildern zum Beispiel, oder in Ruinen und Schaufenstern. (Foto: Juri Gottschall)

Nun wird es diese Seite in gedruckter Form nicht mehr geben ( siehe linke Spalte). Das klingt traurig - auch für uns. Und muss doch nicht traurig sein. Wir werden schließlich weitermachen. Denn das ist ja das Schöne an dem Blick, mit dem wir durch München gehen: Er lässt sich erstens nicht einfach abstellen und er ist zweitens universal. Will sagen: Wenn wir mit ihm auf München geschaut haben, auf die Stadt, in der wir leben, die unser Zuhause ist, haben wir natürlich viel Spezielles entdeckt. Die Mechanismen der Urbanität, die zu entdecken vielleicht die Aufgabe der jetzt-Münchenseite war, funktionieren anderswo aber genauso. Das kann man lesen und mögen und nachfühlen, ganz egal, wo man wohnt. Deshalb wurden unsere "Münchenthemen" ja auch überall gelesen. Sogar in Berlin.

Eine Zeitungsseite mag abzuschaffen sein, unser Blick nicht. Er wird auch in Zukunft überall und immer der gleiche sein: Ein Blick, der danach fragt, warum genau Menschen, das, was sie tun, eigentlich tun. Wann. Und welche Spuren sie unbemerkt dabei hinterlassen. Wie es sich anfühlt, durch die Stadt und überhaupt durchs Leben zu gehen und sich dabei immer wieder über die verborgenen Strukturen und poetischen Randphänomene zu wundern, die man dabei vorfindet. Und weil man das ja weiterhin auch auf Papier drucken kann ( siehe noch mal linke Spalte), ist das hier gar kein richtiges "Servus". Eher ein auf Wiedersehen. Bis die Tage. In der Zeitung.

© SZ vom 14.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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