8422 Kilometer westlich der Theresienwiese:"Zicke zacke, zicke zacke! Hoi hoi hoi! Prost!"

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In Denver, Colorado, amüsieren sich alljährlich Tausende US-Amerikaner beim Bratwurstwettessen, Masskrugstemmen und Bierfasskegeln.

Von Thierry Backes

Andrew Renfrow krallt sich die nächste Wurst vom Teller. Er schluckt die Reste der vorigen schnell hinunter, dann rattert sein Kiefer wieder los. Sechzig Sekunden noch, dreißig. Die Menge johlt. Renfrow stößt auf, egal. Weiterfuttern. Immer weiterfuttern. Dreizehneinhalb Bratwürste presst er in sich hinein, in zehn Minuten, ohne Semmel, Senf oder Ketchup. Das reicht für den Sieg beim "Bratwurst Eating Contest".

Renfrow steigt mit einem überdimensionierten Scheck über 500 Dollar von der Bühne. Er übersieht fast die halbverdauten Wursthäppchen, die jemand auf die Straße gespuckt haben muss. "Ich mag eigentlich keine Würste", sagt er. "Es geht mir nur um den Wettkampf. Und um das kostenlose Mittagessen."

Herzlich willkommen auf dem 48. Oktoberfest in Denver, Colorado. Die Tradition geht hier auf das Jahr 1969 zurück: Die Einwanderer Fred und Hertha Thomas sollen damals die Münchner Wiesn so sehr vermisst haben, dass sie ein Fass Bier vor ihrem Café anzapften und Brezn und Radieschen anboten. Heute feiern hier an zwei Wochenenden im Jahr gut 350 000 Besucher. Angeblich ist es das zweitgrößte Oktoberfest der USA, größer ist nur das in Münchens Partnerstadt Cincinnati. Doch wie viel hat es mit dem Original gemein?

Samstagnachmittag, zwölf Grad Celsius, Nieselregen. Das Festgelände an der Larimer Street füllt sich langsam. Man sollte sich das nicht als Zeltstadt wie auf der Theresienwiese vorstellen, eher wie ein Straßenfest mit bajuwarischem Anstrich. Eine Straße, zwei abgesperrte Blocks in Downtown mit Blick auf das Baseballstadion.

Weiß-blaue Werbebanner begrüßen die Gäste mit "Guten Tag!" oder der Aufschrift "Zicke zacke, zicke zacke! Hoi hoi hoi! Prost!" Rechts und links gibt es Verkaufsstände, hier Bobs geröstete Mandeln für vier Dollar die Tüte, dort "Jumbo Beer Brats" mit Sauerkraut, für acht Dollar. Keine Bierbänke, sondern Plastikstühle - und drei Dutzend Dixi-Klos.

Sarah Dammon, 38, hat sich erst in die Bierticketschlange gestellt, dann in die Bierschlange, nun stößt sie unter einem Zeltdach mit ihrem Mann Bob, 33, an. Er trägt einen Lederhut und Hosenträger mit Bierkrugmuster, sie hat sich die Haare geflochten und ihr Dirndl angezogen - oder das, was hier als Dirndl durchgeht, man kennt das ja von Touristen in München.

In Denver ist es quasi Teil der Kultur: "Männer tragen typischerweise Lederhosen und einen Hühnchenhut", steht auf der Webseite des Denver Oktoberfests, "Frauen ein Dirndl oder ein Biermädchen-Kostüm, das man in jedem Halloween-Geschäft kaufen kann."

Beim Bierfass-Bowling können die Gäste in Denver ihr Geschick zeigen. (Foto: Thierry Backes)

Sarah Dammon sagt, ihr fehle das Traditionelle auf dem Oktoberfest in Denver, die Polka, die German Music. Hinter ihr schrubbt eine Band namens Big Green Carpet auf ihren Gitarren herum. Dass sie das ohne Publikum tut, könnte am Regen liegen, der stärker geworden ist. Muss es aber nicht. Dammon jodelt dagegen an. "Vor zehn Jahren hatten sie noch deutsche Tanzlehrer hier", sagt sie und meint wohl bayerische. "Ich möchte das wiederhaben. Mir ist das alles zu kommerziell geworden."

"Immerhin haben wir gutes Bier", wirft Bob Dammon ein. Das Bier, ja. Der Veranstalter, eine Event-Agentur, die sich auf Triathlons und Hindernismatschrennen wie den "Dirty Girl Mud Run" spezialisiert hat, lässt Spaten und Franziskaner servieren. Es fließt aus einem Bud-Light-Truck, dazu gibt es Cidre aus Belgien. Wer will, kann das kastanienbraune Festbier aus Denver probieren, das mehr nach bitterem Doppelbock schmeckt als nach einem saftigen Märzen. Dabei gibt es hier gleich zwei Brauereien, die ein ausgezeichnetes Helles produzieren, aber auf dem Oktoberfest nicht ausschenken. Sie heißen, kein Scherz, "Prost" und "Bierstadt".

Steve Young, 30, nippt an einem Stein, der amerikanischen Version eines Masskruges. 32 Unzen passen hinein, 945 Milliliter. Man könnte auch schreiben: Füllt man ihn richtig, hat man mehr Bier als bei einer durchschnittlichen Wiesn-Mass. Ein Stein kostet 25 Dollar, dazu kommen zwölf Dollar pro Betankung. Wer auf einen Stein verzichtet, muss sein Bier aus dem Becher trinken (halbe Größe, halber Preis).

Young trägt zum Tommy-Hilfiger-Hemd eine echte Lederhose aus München, 299 Euro hat er bezahlt, als er 2015 auf der Wiesn war, Socken und Haferlschuhe inklusive. Er steht jetzt oben auf der Bühne, die nächste Runde im Masskrugstemmen beginnt, im "Stein Hoisting". Zwei volle Krüge müssen sie mit ausgestreckten Armen auf Schulterhöhe halten. Young lehnt sich weit nach hinten, was nicht erlaubt ist, winkelt die Arme an, was nicht erlaubt ist, aber wer wird denn hier so streng sein?

Er setzt die Krüge nach 4.20 Minuten ab, als Letzter, aber das ist weit entfernt von den 10.49 Minuten, die einer gleich nach ihm stemmt. "Die hätte ich auch locker geschafft", sagt Young, als er wieder unten ist. "Beim Finale bin ich richtig vorbereitet."

Pause beim Stein Hoisting. Aus den Boxen dröhnt DJ Ötzi, "Gemma Bier trinken". Schnell weiter, an dem Riesenpimmel vorbei, der die Spitze eines Junggesellinnenabschieds markiert. Vorbei an dem Typen, der seinen leeren Stein an den Gürtel geheftet hat, und an den Jungs mit den "original German hats" aus Plastik, die sich gerade im Irish Pub Bier geholt haben.

Weiter durch eine Marihuanawolke, wie sie in Denver Alltag ist, zum "Keg Bowling", noch so eine amerikanische Erfindung. Man schnalle ein metallenes Bierfass auf einen Wagen und kegele eine Pyramide von neun weiteren Fässern um. Hat etwas von Donkey Kong. Und wenn wir schon bei Tieren sind: Eine Woche später starten bis zu 60 Dackel beim zwölften "Long Dog Derby", um den schnellsten "Wiener" in sechs Kategorien zu ermitteln.

Vor dem Stand der "Styria Bakery" hat sich die längste Schlange auf dem Festgelände gebildet. Wie die Brezen schmecken? Amerikaner lieben diese Dinger, die sie Pretzel nennen. Sie kommen meist in Öl gebadet, frisch aus der Mikrowelle und werden ab und an mit einer Art Nachokäse serviert, meist mit scharfem, körnigem Senf. Hier aber liegen tatsächlich Brezen für sechs Dollar aus, die etwas hermachen. "Das Geschäft brummt", sagt Norman Lurschield, 49, wickelt eine weitere Pretzel in weiß-blaues Papier und händigt sie aus. Er sagt übrigens wirklich "brummt", Lurschield stammt aus dem Rheintal, ist 1999 in die USA gezogen. Nun arbeitet er für einen Unternehmer aus der Steiermark. "Unsere Pretzel ist immer noch sehr fluffig, aber viel besser als das Zeug, das man hier sonst so bekommt", sagt er. Das macht zwar noch lange keine knusprige Wiesn-Brezen aus, aber wer wird denn da so streng sein?

© SZ vom 02.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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