82 Prozent dafür:Fußabdruck statt Blechlawine

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Seit einem Jahr ist die Sendlinger Straße probehalber autofrei. Mit einem Straßenmalfest wird die neue Fußgängerzone gefeiert, die nun wahrscheinlich dauerhaft bleiben soll

Von Jasmin Siebert

Wo sich bis vor einem Jahr Autos aneinanderreihten, zieren am Samstagnachmittag Hüpfkästchen, Eiswaffeln, das Logo des FC Bayern München, Tiere, viele Blumen und Bäume den grauen Beton. Mit einem Straßenmalfest haben Green City, die Urbanauten, der Bund Naturschutz und das Münchner Forum die Fußgängerzone gefeiert, die vor einem Jahr probehalber in der Sendlinger Straße eingerichtet wurde.

Auch die zehnjährige Karla und ihre Schwester Frida, sechs Jahre alt, haben sich Straßenkreiden geschnappt. Zuerst malen sie mit ihrem Vater Muster im Stil von Keith Haring. Dann spricht sie der Street-Art-Künstler Martin Blumöhr an. Er hat den Umriss eines riesigen Fußes gemalt, der nun gefüllt werden muss. Die Urbanauten haben ihn und zwei weitere Künstler extra engagiert. Blumöhr ist auf Kunst im öffentlichen Raum spezialisiert, andere mitzureißen, ist sein Ding. Die kleinen Künstler - ein Dutzend wuselt um ihn herum - muss er gar nicht groß motivieren. "Die Kinder haben Bock", freut er sich. Karla malt bei den Blumen und Schmetterlingen in der Fußinnenfläche mit, ihre jüngere Schwester malt ein Blatt und einen Fisch in die Zehen. Stundenlang sind sie nicht mehr von den Kreiden zu trennen.

Das Straßenmalfest ist nicht nur ein schöner Zeitvertreib für den Samstagnachmittag, sondern hat auch eine politische Botschaft: Die Veranstalter setzen sich dafür ein, dass die Sendlinger Straße dauerhaft eine Fußgängerzone bleibt.

Seit 1. Juli 2016 heißt es: Autos raus, mehr Platz für Passanten! Und die kamen in Scharen: Mehr als 8000 Fußgänger wurden an einem Samstag im April auf Höhe der Asamhöfe gezählt - 3000 mehr als im Jahr zuvor. Nach der Kaufingerstraße ist die Sendlinger Straße damit zu Münchens Top-Einkaufsstraße aufgestiegen. Die Auswertung von Fragebögen, die im Frühjahr verteilt wurden, ergab: Die autofreie Straße findet überwiegend Zustimmung bei Geschäftsleuten, Passanten und den 260 anliegenden Haushalten. 71 Prozent der Anwohner schätzen es, dass Lärm- und Abgasbelastungen verschwunden sind. Kritisiert wurden weggefallene Parkplätze, fehlende Ausnahmegenehmigungen für Handwerker und Gehbehinderte und unflexible Lieferzeiten für die Geschäfte. Auch fürchten einige Menschen einen möglichen Strukturwandel, wenn die autofreie Straße zu sehr aufgewertet wird. Dennoch ist die große Mehrheit der befragten Münchner, nämlich 82 Prozent, dafür, dass die Sendlinger Straße dauerhaft autofrei bleibt. Und es sieht ganz danach aus, als würde der Stadtrat diesen Wunsch erfüllen. Noch vor der Sommerpause soll die dauerhafte Fußgängerzone beschlossen werden.

Einer, für den sich diese Entscheidung wie ein großer Triumph anfühlen müsste, ist Karl Klühspies. Der 89-jährige Stadtplaner wehrte sich schon vor einem halben Jahrhundert gegen Pläne, München zur autogerechten Stadt nach amerikanischem Vorbild umbauen. Beim Straßenmalfest erzählt er von "Wahnsinnsideen", die er einst mit verhindert hat: "Die Lindauer Autobahn hätte am Sendlinger Tor enden sollen!" Heute entwickelt sich die Stadtplanung in eine Richtung, die er schon lange propagiert: die Stadt den Menschen zurückgeben. Ob er Genugtuung verspüre? "Nein, dazu neige ich nicht. Aber ich bin froh, dass es jetzt so ist."

Ulrike Bührlen von den Urbanauten plädiert dafür, dass die Stadtplaner künftig mehr Experimente wagen sollen. Ramón Arndt aus dem Vorstand von Green City ergänzt, dass die Straßen der Innenstadt "ein öffentliches Gut für alle" seien und zu wertvoll, um nur von Autos zugestellt zu werden. Christian Hierneis, Vorsitzender des Bundes Naturschutz München, sagt, um der Luftverschmutzung zu begegnen, sei die weitere Verbannung des Autoverkehrs aus der Innenstadt unumgänglich.

Drei Stunden haben Karla und Frida inzwischen gemalt, ihre Hosen sind voller Kreide. Zur Belohnung tuscht ihnen Künstler Blumöhr ihre Lieblingstiere auf die Arme: ein Fuchs für Frida und ein Pferd für Karla. Ihre Mutter lobt ihr "super Durchhaltevermögen". Während ihre Töchter malten, hat sie Passanten beobachtet: Die bunt bemalte Straße zaubert jedem ein Lächeln ins Gesicht. Ihr Fazit: "Coole Aktion!"

"Super finde ich die Aktion", ruft auch ein älterer Mann, ehe er wieder seine Kamera zückt, um die vergänglichen Kunstwerke festzuhalten. Denn bald werden die Kreidemalereien weggewischt. Nicht weil es regnet, sondern wegen einer Auflage des Kreisverwaltungsreferats: Abends muss die Straße wieder sauber sein. "Ich finde es doof, dass unser Bild wegkommt. Es stört doch niemanden", sagt Karla.

© SZ vom 19.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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