50 Jahre Gastarbeiter:Einmal München und zurück

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Wie die Falcones aus Kalabrien seit Generationen immer wieder nach Deutschland zogen - und warum sie bedauern, nicht geblieben zu sein. Eine Geschichte über Glück und Heimat, von Orten unabhängig.

Birgit Lutz-Temsch

Vincenzo Dante Falcones Finger fliegen über die Tasten. Die Fisarmonica schreit die "Calabrisella" heraus. Das alte kalabrische Volkslied hallt durch alle sechs Stockwerke des Mietshauses und hinaus auf die Straße nach Catanzaro Lido. "So klingt ein gutes Konzertakkordeon!", ruft Vincenzo Dante.

Vincenzo Dante Falcone (Foto: Foto: Lutz-Temsch)

Der 72-Jährige packt das Instrument, presst die Knöpfe und lässt den Schneewalzer erschallen, darauf folgt ein bayerischer Landler. Seine Frau Adele kommt mit einem Pack Spaghetti für das Mittagessen in der Hand ins Zimmer, um ihren Mann zu bremsen.

Akkordeon über Akkordeon stapelt sich in dem Raum, der einmal ein Kinderzimmer war. 70 Fisarmonicas hat Vincenzo angesammelt, die schönsten stehen in einem riesigen verglasten Wandschrank. In einem Regal reihen sich Pokale aneinander, die er bei Musikwettbewerben gewonnen hat, daneben hängen Zeitungsartikel: Vincenzo bei Auftritten in Wolfsburg, in Berlin, in Holland. Vincenzo Dante Falcone "ist immer ein bisschen lustig", sagt seine Tochter Enza über ihn. Lustig ist Vincenzo auch geblieben, als er nichts zu lachen hatte.

Catanzaro liegt in Kalabrien, zwischen der Sohle Italiens und dem Absatz. Im Sommer wird es am Ionischen Meer so heiß, dass die "Kleine Schweiz", die Berge, die sich im Hinterland erheben, braun verbrennen. Der Winter bringt stürmische Regentage, an denen der Scirocco das Meer aufwühlt und es in den Häusern klamm und feucht ist.

Von dort geht Vincenzo in den Siebzigern nach München. Nicht, weil er in Kalabrien sonst verhungert wäre. "Ich war neugierig", sagt er. "Ich hatte eine Autowerkstatt. Aber ich wollte sehen, wie es in Deutschland ist."

Im Kopf sind wir anders

Diese Neugier liegt bei den Falcones in der Familie. "Natürlich sind wir Kalabreser", sagt Enza. "Aber im Kopf, da sind wir anders." Warum anders? "Weil die Falcones seit Generationen Kalabrien immer wieder verlassen haben", erklärt Enza, und hält einen Moment beim Decken des Mittagstischs inne.

Ihr Urgroßvater arbeitet im 19. Jahrhundert in New York, ihr Großvater geht nach Deutschland, schließlich auch ihr Vater und sie selbst. "Wenn Du weggehst, sieht Du, dass andere Menschen anders leben. Und wenn es so, wie die es machen, besser ist - dann machst Du es doch auch so, oder nicht?" Die Mentalität ändere sich so, man werde offener, für alles, sagt sie.

Seit er denken kann, sagt Vincenzo Dante, gibt es in seiner Familie eine Verbindung nach Deutschland. Seine Eltern haben ein großes Haus; während des Zweiten Weltkriegs sind Deutsche bei ihnen einquartiert. "Das war für mich als Kind spannend", sagt Vincenzo, "ich hab' immer wieder ein paar Wörter Deutsch gelernt."

Dass sein Vater, Antonio Falcone, der heute 102 Jahre alt ist, von 1965 an zwei Jahre lang in Deutschland arbeitet, ist Zufall. Er ist zu Besuch bei Freunden in Bonn, und die organisieren für den in seiner Heimat bekannten Orgelstimmer eine Führung durch die renommierte Orgelbau-Firma Klais. Dort mühen sich gerade mehrere Angestellte mit dem Intonieren einer immensen Orgel, die in die USA gehen soll.

Antonio fragt, ob er helfen kann. Und stimmt das Instrument, ohne elektronisches Gerät oder eingestellte Pfeifen zu benötigen, nur mit Hilfe seines Gehörs. Er habe das absolute Gehör, sagt ihm der Firmeninhaber. Er engagiert ihn vom Fleck weg als Stimmer.

Nach zwei Jahren geht Antonio zurück nach Kalabrien. Über den Mann mit dem absoluten Gehör wird in seiner Heimat sogar ein Buch geschrieben. In Bonn bekommt er 1967 ein Zeugnis, in dem steht: "Er war pünktlich, höflich und sauber."

1970 zieht es Vincenzo Dante selbst in die Ferne. Er wird einer der vielen italienischen Gastarbeiter, die von 1955 bis zum Anwerbestopp 1973 nach Deutschland kamen. Ein Vincenzo Dante allerdings ist nicht gemacht für die Erniedrigungen der Anwerbekommission mit ärztlichen Untersuchungen und Unterkünften in unwürdigen Baracken: Er versucht sein Glück auf eigene Faust.

Er lässt seine Autospenglerei, seine Frau Adele, seine Tochter Enza und den Sohn Angelo in Kalabrien und fährt nach München. In der Opel-Werkstatt Bruckmann in der Schleißheimer Straße bekommt er Arbeit. Und Vincenzo, der Lustige, findet schnell Anschluss. Mit einem Schlagzeuger aus Bozen, der eine Deutsche heiratet, und mit einem Gitarristen aus Brindisi gründet er eine Musikkappelle. Er spielt im Gasthaus Schmidt im Olympiapark, in einer Kneipe in der Fürstenrieder Straße, im Hotel Europa an der Straße nach Dachau, abends und am Wochenende.

Im Sommer kommen ihn seine Frau Adele und die Kinder besuchen - sie schlafen erst einmal auf dem Campingplatz in Thalkirchen. "Das war auch so eine verrückte Idee meines Vaters", sagt Enza. Die damals Elfjährige erinnert sich noch an den nahen Fluss, an dem sie mit ihrem Bruder spielte. Adele und den Kindern gefällt es in München. "Eine Familie muss zusammen sein", sagt Adele. Also sucht Vincenzo eine größere Wohnung, und kurze Zeit später ziehen alle zusammen nach Oberschleißheim in die Feierabendstraße.

Adele findet Arbeit in einem Labor für Lebensmittelkontrollen, Enza und Angelo gehen zur Schule. "Die deutschen Kinder haben uns Spaghetti genannt, und wir die deutschen Kinder Kartoffel", sagt Enza. "Aber alles nur im Spaß. Meine ganzen Freundinnen waren Deutsche, bis auf eine Griechin."

Auch ihre Vermieterin mag die junge Familie - mehr als 30 Jahre später schreiben sich die Falcones und ihre Hausherrin noch immer Weihnachts- und Geburtstagskarten. "Wir haben uns schnell eingelebt", sagt Adele, während es aus mehreren Töpfen in der Küche dampft und Essensduft durch die Wohnung zieht. "Aber ich bin auch eine Person, die sich nie groß hat einschüchtern lassen. Ich war immer optimistisch. Wenn heute kein guter Tag ist, dann ist es sicher morgen wieder besser, so dachte ich", sagt die 77-Jährige. "Das war nicht davon abhängig, wo ich war."

"Wir hatten kein Heimweh", sagt Enza. Der Vater kauft seinen Kindern Fahrräder - ein Fest für die beiden, denn zuhause in Kalabrien ist es zu bergig, um viel mit dem Rad herumzufahren. Sie kurven durch Oberschleißheim, Angelo wird Mitglied im Fußballverein.

Enza fühlt sich frei. "In Kalabrien dachte die Jugend damals noch so früh an Heirat", sagt Enza. "In Deutschland war man doch schon ein bisschen offener." Ein Junge verliebt sich in sie, ein großer blonder. Ihr aber gefällt ein anderer, der wiederum sie nicht beachtet. Die Falcones besuchen das Deutsche Museum, fiebern 1972 bei den Olympischen Spielen im Olympiastadion mit und gehen in Oberschleißheim zur Regattastrecke, um dem Spektakel zuzusehen. "Das war alles so aufregend, und so schön. Wir waren so geschockt, als dann das Attentat war", erzählt Adele.

Verlassen und aufgegeben

Carmen, die jüngere Tochter Enzas, hört den Gesprächen zu. "Ist München viel entwickelter als Kalabrien?", fragt die Zwölfjährige die Reporterin nachmittags bei einem Bummel durch Catanzaro. Was sie damit meint? Carmen macht eine Handbewegung, die die ganze Stadt einschließen soll. "Na, hier ist doch mittlerweile alles verlassen, alles aufgegeben", sagt sie.

Früher sei Catanzaro ein Zentrum für Seide und Handwerk gewesen, das habe sie in der Schule gelernt, aber heute? Ob es denn gar keine Industrie gebe, fragt man dann, und Carmen sagt: "Hier gibt es überhaupt nichts. Und schön ist Catanzaro auch nicht."

Das vernichtende Urteil ihrer Tochter versucht Mutter Enza ein bisschen abzuschwächen. "Nun, Catanzaro ist wegen seiner geographischen Lage ein bisschen benachteiligt", sagt sie. Wegen der Berge ringsum könne sich die Stadt nicht so ausbreiten. Carmens Blick spricht Bände, aber sie sagt es nicht, dass sie sich nicht vorstellen kann, was sich hier noch ausbreiten solle.

Warum sind die Falcones dann überhaupt nach Catanzaro zurück? "Gastarbeiterkinder gingen nicht aufs Gymnasium", sagt Enza, mit einem Anflug von Bitterkeit. "Das war damals so, und man hat sich dem irgendwie gefügt. Hätte man ein bisschen mehr überlegt, hätte ich auch in München das Gymnasium besuchen können."

Denn das war Vincenzo und Adele sehr wichtig: Die Kinder sollten unbedingt Abitur machen. Also entschließen sich die Falcones der Schulbildung ihrer Kinder wegen, nach Catanzaro zu ziehen.

Mit der Rückkehr nach Kalabrien ist die Verbindung nach Deutschland aber nicht abgerissen: Noch ein paar Mal fahren die Falcones zum Oktoberfest. Und das Akkordeonspiel bringt Vincenzo nicht nur durch ganz Italien, sondern auch immer wieder nach Deutschland.

Als Solist spielt er in Wolfsburg bei der 100-Jahr-Feier von Volkswagen, in Köln bei einem internationalen Festival und bei einer Feier zum Fall der Mauer in Berlin. Bei seinen Reisen bringt er italienische Lieder nach Deutschland und deutsche Melodien nach Italien.

"Wir hätten in München bleiben sollen", sagt Adele beim Abendessen, bei dem Vincenzo Glas um Glas des hausgemachten Weins einschenkt. Und auf einmal schaut sie traurig und Vincenzo sagt gar nichts mehr. Denn kurz nach ihrem Umzug, als Enza 18 ist und ihr Bruder Angelo 16, passiert das Fürchterliche: Angelo fährt mit seinem Rad durch Catanzaro, wie er das aus München gewöhnt ist.

Er verunglückt tödlich. Seitdem, sagt Adele, könne sie, die sonst immer froh in die Zukunft blickte, nicht anders: Immerzu denke sie, dass sie ihren Sohn noch hätte, wenn sie doch in München geblieben wären. In die Stille hinein sagt Vincenzo, nun sei es Zeit für einen Schnaps, und als man ablehnt, des Autofahrens wegen, sagt Adele: "Na gut, dann trinkst Du eben Limoncello."

Später am Abend, zuhause bei Enza vor dem gemütlich knisternden Kaminfeuer, setzt sich Carmen ans Klavier, spielt eine Weile. Enza erzählt, wie ihr Leben nach der Rückkehr aus Deutschland verlaufen ist. Kurz vor dem Tod des Bruders macht sie Abitur, wie ihre Eltern das wollten. Vielleicht ist es sogar eine Widmung an Angelo, dass sie danach Deutsch studiert, denn die Erinnerung an die Zeit in München, als die Familie noch komplett war, lässt sie nicht los. Sie wird Deutschlehrerin am Gymnasium. Immer wieder versucht sie, einen Schüleraustausch zu organisieren, das gelingt ihr aber nicht, weil die deutschen Gymnasien lieber nach Frankreich fahren.

Das Glück in München

Mit 27 heiratet sie ihren Mann Pino, ihre erste Tochter nennt sie nach dem Bruder, Angela. Auch Angela, die das wissenschaftliche Gymnasium besucht, macht Musik: Sie spielt Akkordeon, wie ihr Großvater, jede Woche fährt sie deshalb fast 90 Kilometer weit nach Vibo ins Konservatorium, weil es in Catanzaro keine guten Lehrer gibt.

Die 17-Jährige ist noch nicht zuhause. Ihr Interesse an der Musik habe seit kurzem etwas nachgelassen, sagt Pino lächelnd, es gebe da jetzt wohl Wichtigeres. Mit welchem Beruf man in Deutschland das meiste Geld verdiene, fragt Carmen, als Psychologin, Rechtsanwältin oder Journalistin? Enza sagt, sie treibe ihre Kinder immer an in der Schule. "Wenn Du gut bist, findest Du auch hier Arbeit", sagt sie.

An der Wand im Wohnzimmer hängt ein Silberteller. Die Fußballmannschaft Angelos hat ihn der Familie geschenkt. "Für Angelo, der Du immer der Kapitän unseres Teams bleiben wirst", steht darauf. Die glücklichste Zeit mit ihren Eltern seien die Jahre in München gewesen, sagt Enza. Nicht, weil es Deutschland war. Sondern weil sie da noch alle zusammen gewesen seien. "Dabei kam es nicht so sehr auf den Ort an."

© SZ vom 2.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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