200 Jahre Viktualienmarkt (1):Vom Bürgerspital zur Trüffelparade

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Am 2. Mai begeht die Stadt den runden Geburtstag jenes Platzes, der Inbegriff für Köstlichkeiten und das Münchner Lebensgefühl ist.

Wolfgang Görl

Es gibt Momente, in denen man den Viktualienmarkt verfluchen möchte, zum Beispiel wenn man für ein Pfund Pfirsiche 9,95 Euro zu berappen hat - aber da muss man durch, zumal die Verwunderung über die Preise vermutlich so alt ist wie der Markt selbst.

Der Viktualienmarkt (Foto: Foto: Rumpf)

Zwar ist es nicht grundsätzlich falsch, am Marktgeschehen als Kunde teilzunehmen, doch das eigentliche Viktualienmarkt-Gefühl stellt sich erst ein, wenn man nichts kaufen muss. Wenn man einfach nur da ist, um die Vielfalt der Kartoffelsorten und Menschentypen zu bestaunen.

In solch glücklichen Stunden wird das Areal zwischen Heiliggeistkirche und Frauenstraße zu einem Ort der Erkenntnis, zu der man am bequemsten an einem Biergartentisch unter den Kastanien gelangt, wo dem als Gast getarnten Beobachter allerlei Eindrücke über die leibliche Seite des Münchner Wesens vor Augen kommen.

Dabei drängt sich der Gedanke auf, der Münchner sei, sofern er es sich leisten kann, ein dem Kulinarischen ergebener Genussmensch, der den unterschiedlichen Geschmackseigenschaften von Schrobenhausener und Abensberger Spargel eine weitaus höhere Bedeutung beimisst als den jüngsten Initiativen der deutschen Außenpolitik. Ja, womöglich ist es so, dass Obst, Gemüse, Wurst und Käse - vom Bier ganz zu schweigen - hier ein Ansehen genießen, das die Stadt praktisch dazu zwingt, dem gehobenen Lebensmittelhandel einen beträchtlichen Teil der City zur Verfügung zu stellen.

Denn marktwirtschaftlich betrachtet, ist der Viktualienmarkt wohl purer Luxus. Wer nichts vom hiesigen Ortsgeist weiß, könnte auf die Idee kommen, das etwa 22 000 Quadratmeter große Areal zum Höchstpreis an einen Investor zu verscherbeln, der ein Shopping-Center mit dem üblichen Mix aus Klamotten-Läden, Italobars, Büros nebst luxuriösen Lofts im Dachgeschoss errichten würde.

Doch das traut sich heute gottlob niemand - im Gegensatz zu den sechziger Jahren, als ernsthaft überlegt wurde, Teile des Markts einer Stadtautobahn zu opfern. Die autogerechte Stadt galt damals als Dernier Cri der Verkehrsplanung, und hätten nicht Menschen wie der damalige Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel dagegengehalten, würde man heuer nicht das 200-jährige Bestehen des Viktualienmarkts feiern. Allenfalls ein Gedenktag käme in Betracht, bei dem der aktuelle OB Christian Ude einen späten Nachruf auf ein für immer verlorenes Stück München halten würde. Aber so weit ist es ja nicht gekommen.

Chaotisches Treiben

Im Gegensatz zum obskuren Gründungsdatum Münchens, dem 14. Juni 1158, und dem noch zweifelhafteren Tag der Erfindung der Weißwurst gibt es für den Viktualienmarkt ein halbwegs akzeptables Jubiläumsdatum. Am 10. März 1807 verfügte König Max I. Joseph per "allerhöchster Entschließung", den Markt auf den Hof des Heiliggeistspitals zu verlegen. Damit reagierte der König auf das chaotische Treiben, das auf dem althergebrachten Marktplatz der Münchner, dem heutigen Marienplatz, zur damaligen Zeit die Regel war.

Dieses Areal war jahrhundertelang der merkantile Mittelpunkt Münchens gewesen. Fisch und Wein boten die Händler dort feil, die Bauern kamen mit Feldfrüchten, Milch, Käse, Eiern und allerlei Getier in die Stadt, und mit dem Ausbau der Handelswege gelangten auch fremdländische Produkte nach München. Die für die Ernährung wichtigste Ware aber war das Getreide, das nachweislich bereits im 13. Jahrhundert hier verkauft wurde. Vom Schrot und Korn hatte das Karree auch seinen Namen. Es hieß Schrannenplatz, was nichts anderes war als die früher in Süddeutschland gängige Bezeichnung für einen Getreidemarkt. Zu Ehren der Heiligen Jungfrau, der man das Ende einer Cholera-Epidemie gutschrieb, taufte die Stadt den Schrannenplatz im Oktober 1853 in Marienplatz um - die Namensfindung bereitete auch deshalb wenig Mühe, weil sich inmitten der Fläche die Mariensäule befindet.

Wer den heutigen Betrieb auf dem Viktualienmarkt, das Gewimmel aus Händlern, Käufern, Touristen und Zuguckern, für ungemütlich hält, weiß nicht, wie es um das Jahr 1800 auf dem Schrannenplatz zuging. In einem Bericht von 1797 heißt es: "Am letzt verflossenen Samstag sah ich in München eine sehr große Schranne, die bis zum schönen Turm hinaufreichte, aber auch zugleich ein so großes Gedräng an Wagen und Pferden, und vermischtes Gewühl von Menschen . . . Es kann manchmal wohl nicht anders ablaufen, als daß an diesen Schrannentagen große Unglücke entstehen müssen, und unbehülfliche Alte und die kleinere Jugend darf sich an diesen Tagen wohl in Acht nehmen, um nicht niedergefahren zu werden, und sich Arme und Beine entzwei rädern zu lassen."

Allmählich ließ es sich nicht mehr leugnen, dass der Schrannenplatz zu klein war. Da kämpften Getreide-, Fisch- und Obsthändler, Eierverkäufer und Kräutlbauern um jeden Quadratzentimeter, was den Anwohnern den letzten Nerv raubte. "Den ganzen Vormittag ist hier ununterbrochenes Gestürme von Käufern und Verkäufern, von ab- und zufahrenden Wägen, vom Geschrei der Sackträger und Schrannenknechte", notiert ein zeitgenössischer Beobachter.

So war es für viele eine Erlösung, als der König den Umzug veranlasste. Allerdings brachte der Magistrat die Sache nur widerstrebend auf den Weg, weil eine ganze Reihe von Schwierigkeiten zu erwarten war. Max I. Joseph wiederum wird der Entschluss umso leichter gefallen sein, als das junge Königreich, das dem machtpolitischen Kalkül Napoleons seine Existenz verdankte, einer repräsentativen Hauptstadt bedurfte. Der Reputation war es nicht gerade förderlich, wenn sich auf dem zentralen Platz der Residenzstadt Szenen wie auf einer Bauernkirta abspielten.

Derlei Zustände dürften auch dem mächtigsten königlichen Berater, dem Minister Maximilian Joseph Graf von Montgelas, missfallen haben, der im Hintergrund die Strippen zog. Der gebürtige Münchner Montgelas war vom Geist der Aufklärung beseelt, was vor allem die Kirchen und Klöster zu spüren bekamen, deren Besitz er ohne viel Federlesens säkularisierte. Ein weltlich gestimmter Politiker wie er hatte auch keine Skrupel, den Markt ausgerechnet dorthin zu verlegen, wo christliches Samaritertum waltete: in den Hof des Heiliggeistspitals.

Wer heute auf dem Viktualienmarkt eine Stadtführung belauscht - daran teilzunehmen wäre für einen Münchner, auch wenn er keine Ahnung hat, doch zu peinlich - , wer also heimlich zuhört, darf sich in der Regel an den Bemühungen des Fremdenführers erfreuen, den Gästen die ehemalige Bebauung vors geistige Auge zu führen: Dort rechts, heißt es dann, standen einst die Ökonomiegebäude des Spitals, da das Frauen- dort das Männerspital, und ein Haus für Waisenkinder gab es auch noch. All das und noch mehr hat sukzessive dem Viktualienmarkt weichen müssen, alles bis auf eines: die Heiliggeistkirche, ein ursprünglich gotischer Bau, der im 18. Jahrhundert barockisiert und später erweitert wurde.

Allerdings gab es Pläne, den Kirchturm, der den Zugang zum Markt verengte, zu schleifen und im Kirchengebäude die Stadtwaage unterzubringen. Nach Protesten unterblieb das zwar, aber die Ehrfurcht vor dem sakralen Gebäude schien nicht durchweg verbreitet gewesen zu sein. Axel Winterstein zitiert in seinem Buch "200 Jahre Viktualienmarkt in München" einen zeitgenössischen Bericht, wonach es Sitte war, "dass die Köchinnen mit ihren hochbepackten Marktkörben zu Hunderten durch die Heiliggeistkirche marschierten".

Ein modernes Projekt

Vielleicht ist es nicht völlig verkehrt, die damaligen Vorgänge so zu sehen: Das Spital verkörperte den christlich-karitativen Geist des Mittelalters, war eine Institution, die auf fürstlicher Gnade und kirchlicher Fürsorge beruhte, wohingegen im Markt zunehmend die Prinzipien modernen Wirtschaftens zum Tragen kamen. Folglich war der Viktualienmarkt, wie bäuerlich er damals noch gewesen sein mag, bereits ein modernes Projekt.

Dafür opferte der König eine außergewöhnliche soziale Einrichtung. Herzog Ludwig I., der Kehlheimer, hatte das Spital im Jahr 1208 gestiftet, in dem sich Augustinermönche zunächst um Pilger, Arme, Gebrechliche und Kranke kümmerten. Im Laufe der Zeit kam ein Haus für alleinstehende Frauen dazu, ein Heim für - wie man sagte - "Geisteskranke", dazu eine Art Altersruhesitz für wohlhabende Bürger, sogenannte "Pfründner", die mit einer Spende Kost und Pflege erwarben. Diese Pfründner fanden 1819 im ehemaligen Elisabethinerinnen-Kloster an der Mathildenstraße vorübergehend eine neue Bleibe.

Nun war es nicht so, dass 1807 der gesamte Spitalkomplex mit einem Mal der Spitzhacke zum Opfer fiel. Zunächst betraf der "allerhöchste Befehl zur Demolierung" die Benefiziatenhäuser und einige Ökonomiegebäude, auf deren Standort im Hof des Spitals sich die Eier- und Kräutlhändler breit machten, bei denen aber auch Geflügel, Wildbret, Obst und Gemüse zu bekommen waren.

Die Metzger verblieben auf ihrem angestammten Platz am Fuße des Petersbergls, wo sie seit Anfang des 14. Jahrhunderts ihr Handwerk ausübten. Dort plätscherte der Angerbach vorbei, der als Rosstränke sowie als Abfallkanal diente. Die noch heute teilweise existierenden, neugotisch gestalteten Metzgerläden entstanden 1880 nach den Plänen des damaligen Stadtbaumeisters Arnold Zenetti.

Die nächste große Abrissaktion fand im Jahr 1828 statt. Das Bräuhaus wurde geschleift, ebenso die Spitalschmiede, die Pfisterei und das Backhaus. Mitte des Jahrhunderts erwischte es das 1682 errichtete kurfürstliche "Zucht- und Arbeitshaus". Das auch "Gendarmeriegebäude" genannte Gemäuer war eine nicht sonderlich komfortable Verwahranstalt für soziale Problemfälle.

Auf kurfürstlichen Befehl waren dort "übermütige Herrendiener, schlechte Ehehalten, liederliche Handwerksburschen, ungeratene Kinder, freche Menscher, langsame Zimmer- und Maurergesellen, faule Tagwerker und Müßiggänger . . . bei geringer Nahrung und Karbatschenhieben" untergebracht. Am längsten hielt sich, von der Heiliggeistkirche abgesehen, das wuchtig-schöne Gebäude des Weiberspitals. Nach dem Umzug des Markts wurde es als Kornhalle, später als Stadtwaage und als Fleischbank genutzt. 1885 war auch damit Schluss, das Haus wurde abgetragen. Rund fünf Jahre später hatte der Viktualienmarkt seine heutige Ausdehnung erreicht.

Eine Reminiszenz an das einstige Marktgeschehen auf dem Schrannen- respektive Marienplatz ist der Fischbrunnen vor dem Rathaus. Bis zum Jahr 1831 hatten hier die Fischhändler ihre Domäne, ehe auch sie auf den Viktualienmarkt verwiesen wurden. Gut 20 Jahre später errichtete die Stadt, die mittlerweile das gesamte Gelände gekauft hatte, eine Seefischhalle, den Vorgängerbau der heutigen Nordsee-Halle. Später ließ sich die "Deutsche Dampffischerei-Gesellschaft Nordsee" in der Halle nieder, angelockt vom Magistrat, der den teueren Münchner Fischhändlern eine billigere Konkurrenz vor die Nase setzen wollte.

Geschnaube und Gewieher

Die Getreidehändler blieben bis 1853 auf dem Schrannenplatz. Dort aber waren die Verhältnisse nach dem Umzug der übrigen Marktleute nicht besser geworden, im Gegenteil: Die Einwohnerzahl der Stadt war unaufhörlich gewachsen, immer mehr Menschen zogen vom Land nach München. Damit stieg der Getreidebedarf, weshalb der Schrannenplatz die in Scharen anfahrenden Händler nicht mehr fassen konnte.

Diese wiederum waren auf dem unbebautem Areal Wind und Wetter ausgesetzt. 1849 beschloss der Magistrat, den Kornmarkt zu verlegen, und zwar auf das Gelände zwischen Viktualienmarkt und dem Angertor. Der städtische Baurat Carl Muffat errichtete dort eine 420 Meter lange Basilika aus Eisen, die damals als neuartiges technisches Meisterwerk galt. Weil aber die Anbindung an das bald wichtig werdende Eisenbahnnetz fehlte, verlor die "Maximilians-Getreidehalle" - vulgo Schranne - bald an Bedeutung.

Teile wurden abgebrochen, der Rest brannte 1932 ab. Aus einigen verbliebenen und zeitweise vergessenen Originalbauteilen wurde 2005 ein Abschnitt der Halle rekonstruiert, bis zur Unkenntlichkeit verglast und als Fress- und Eventtempel der Öffentlichkeit übergeben.

Ende des 19. Jahrhunderts ging es auf dem Viktualienmarkt kaum anders zu als weiland auf dem Schrannenplatz. Davon zeugt ein Bericht aus der damaligen Zeit: "Von allen Seiten kamen sie, auf allen Zufahrtsstraßen. Das gab ein Gepolter, wenn die eisenbeschlagenen Räder über das holprige Kopfsteinpflaster rumpelten. Peitschenknallen, Geschnaube und Gewieher und dazwischen die Rufe der Fuhrleute und Händler. Und dann das Gemecker der Ziegen und das Gegacker des Federviehs. Wer damals am Viktualienmarkt wohnte, der musste taub gewesen sein oder ein Frührentner."

Vom rustikalen Charme der Prinzregentenzeit ist wenig geblieben, und selbst die derben Sprüche der Marktleute sind, so scheint es, eher folkloristisches Theater als Ausdruck bäuerlich-bodenständigen Wesens. Wer auf dem Viktualienmarkt das alte München sucht, wer seinen nostalgischen Gefühlen Zucker geben möchte, muss schon einige Mass intus haben, um nicht enttäuscht zu werden. Und doch ist der Viktualienmarkt einer der schönsten Flecken Münchens. Er ist ein Ort der Sinnlichkeit, großzügig ausgestattet mit Reizen, die an die elementarsten Gelüste appellieren, die nach Essen und die nach Trinken. Aber hier diktiert nicht die Not das Geschehen, sondern das Bedürfnis nach Genuss.

Was auf dem Marktständen ausgestellt ist, die prallen Früchte, die wie Edelsteine präsentierten Trüffel, das als barockes Stillleben arrangierte Meeresgetier, verrät ein - gewiss auch kaufmännisch inspiriertes - Gespür für die Tatsache, dass diese wunderbaren Dinge eine gepflegte Inszenierung verdienen. Zumindest darf man sich ohne größere Irritationen der Vorstellung hingeben, dass es noch etwas anderes gibt als Fastfood-Ketten, in biotechnischen Labors kreierte Magenfüller oder lebensmittelchemisch aufgetunte Turboschweine, deren Schinken kurz vor dem Gammelfleisch-Stadium ins Kühlregal gelangen.

Es mag nicht die schlechteste Idee sein, den Tag auf dem Viktualienmarkt zu verbummeln, und dabei alles zu verkosten, was das Sortiment hergibt. Dass sich das nur die Besserverdienenden leisten können, ist leider auch wahr. Längst ist der Viktualienmarkt auch eine Spielstätte der Münchner Prominentendarsteller, die manchmal den Eindruck vermitteln, als suchten sie in Nachbarschaft des Karl-Valentin-Brunnens schon mal nach einem Standort für ihr eigenes, künftiges Denkmal. Aber so ist halt München: eine Stadt, in der man sich höheren Dingen erst dann zuwendet, wenn der Bauch ordentlich gefüllt ist. Und wäre dieser Bauch ein eigenständiges Wesen, und hätte er eine Vorstellungen vom Paradies, dann sähe dies ungefähr so aus wie der Viktualienmarkt.

Bücher zum Thema: A. Winterstein, 200 Jahre Viktualienmarkt, München Verlag. M. Schäfer, A. Höhne, H. Gebhardt, Der Viktualienmarkt, Mary Hahn Verlag.

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