10H-Regelung:Abgeblasen

Lesezeit: 3 min

Mit seiner Abstandsregelung hat Horst Seehofer die Aufbruchstimmung abgewürgt - seit November 2014 werden kaum noch neue Anlagen in Bayern geplant

Von Christian Sebald, München

Die Zahlen sind gar nicht so schlecht, zumindest auf den ersten Blick: 37 Windräder sind im ersten Halbjahr 2015 in Bayern aufgestellt worden. Im Ranking der Bundesländer liegt der Freistaat damit auf Platz fünf. Ende Juni haben sich exakt 834 Windräder in Bayern gedreht. Und der Bauboom hält an. Bis Jahresende, so sagen Experten, wird womöglich die 900er-Marke gerissen. Doch die Zahlen trügen. Alle Windräder, die 2015 und in der ersten Hälfte 2016 in Bayern aufgestellt werden, sind vor dem 20. November 2014 genehmigt worden. Seit diesem Stichtag ist Schluss mit dem Ausbau der Windkraft in Bayern. Bei den Landratsämtern laufen nur noch vereinzelt neue Bauanträge ein.

Der 20. November 2014 war der Tag, an dem die neue 10H-Regelung von Ministerpräsident Horst Seehofer in Kraft trat. 10H, das ist das Abstandsgesetz, nach dem in Bayern Windräder nur noch genehmigt werden dürfen, wenn der Abstand zwischen ihnen und der nächsten Siedlung das Zehnfache ihrer Höhe beträgt. Bei 200 Meter hohen Windrädern, wie sie technischer Stand sind, sind das zwei Kilometer. Vormals waren, wie in allen anderen Bundesländern, Abstände von 800 bis 1000 Metern die Regel.

Ziel seiner neuen Vorgabe, so wiederholte es Seehofer wie ein Mantra, sei nichts weniger als die "Bewahrung unserer bayerischen Heimat vor einer kompletten Verspargelung". Das Reizwort meint die Verschandelung der Landschaft durch immer mehr und immer höhere Windräder. Die Windkraft-Gegner, die lange Zeit eben dies befürchteten, feiern den Ministerpräsidenten deshalb sehr für seinen Anti-Windkraft-Kurs.

Für die Windkraft-Szene ist der 20. November 2014 dagegen der schwarze Tag schlechthin. Der Grünen-Landtagsabgeordnete und glühende Windkraft-Fan Martin Stümpfig schimpfte schon damals: "Mit 10H würgt Seehofer die Windkraft komplett ab." Denn mit 10H, so hatten Stümpfig und andere schnell ausgerechnet, ist im dicht besiedelten Bayern kaum noch Platz für neue Windräder. Stümpfig fühlt sich längst bestätigt. "Man muss sich nur die Zahl der Windrad-Bauanträge im ersten Quartal 2015 ansehen", sagt er frustriert. "Es waren zwölf - in ganz Bayern! Wie viele davon letztlich umgesetzt werden können, ist offen." 2014, als Seehofer schon kräftig gegen die Windkraft mobilisierte, waren es noch 336 Bauanträge.

Man kann Stümpfigs Frust verstehen. Die Windkraft ist die erneuerbare Energie mit dem größten Potenzial im Freistaat. In einer Studie hat das Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik 2011 das Windkraftpotenzial in Bayern auf 80 Milliarden Kilowattstunden im Jahr beziffert. Das ist genau so viel Strom, wie der Freistaat im Jahr verbraucht. Die 797 Windräder, die sich Ende 2014 hier drehten, produzierten gerade mal zwei Milliarden Kilowattstunden Strom oder zweieinhalb Prozent des jährlichen Gesamtbedarfs. Dabei waren es einst Seehofer und seine CSU, die den Ausbau forcierten. Nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima verkündeten sie, dass 2021 bis zu zehn Prozent des Strombedarfs aus der Windkraft gedeckt werden sollen. Dafür sollten 1000 bis 1500 Windräder neu im Freistaat aufgestellt werden.

Und nun? Die Aufbruchsstimmung von damals ist tiefer Depression gewichen. "Natürlich gibt es noch einige wenige Planer und Bürgermeister, die ein Projekt durchboxen wollen", sagt Günther Beermann. Der Ingenieur aus München ist einer der Windkraft-Pioniere im Freistaat, er war viele Jahre Vorsitzender des Windenergie-Verbands und kennt die Szene wie kaum ein zweiter. "Nehmen Sie zum Beispiel Fuchstal."

Fuchstal ist eine 3500-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Landsberg am Lech, ungefähr 75 Kilometer südwestlich von München. Wie in vielen anderen Gemeinden im Freistaat haben sie sich dort zunächst voller Euphorie an die Planung eines Windparks gemacht. Er sollte im Denklinger Forst entstehen, einem weitläufigen Wald westlich des Lechs. Natürlich war die Enttäuschung groß, als der Landtag Seehofers 10H-Gesetz beschloss. Aber anders als anderswo haben sie in Fuchstal nicht aufgegeben. Sie haben ihre vier Windräder so weit in den Wald hineingerückt, bis ein jedes zwei Kilometer Abstand zur nächsten Wohnsiedlung hatte. Im Juli kam die Baugenehmigung, kürzlich fand der offizielle Spatenstich statt. Ab Mitte 2016 sollen die vier Windräder ans Netz gehen.

"Aber Projekte wie in Fuchstal sind die absolute Ausnahme", sagt Beermann. "Bayernweit gibt es acht bis zehn Gemeinden, wo sie noch Windräder aufstellen wollen." Der Grünen-Politiker Stümpfig sieht das nicht anders. "Seehofer hat mit 10H ja nicht nur die tatsächlichen Hürden für die Windkraft so hoch gehängt, dass sich kaum noch einer an ein Projekt herantraut", sagt Stümpfig. "Mit seiner Rhetorik von der Verspargelung hat er den Ruf der Windkraft so beschädigt, dass jedem, der doch auf sie setzt, massiver Widerstand entgegen bläst, und er die Pläne wieder aufgibt."

Stümpfigs Hoffnung ruht deshalb auf zwei Klagen vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof. Die Landtagsopposition und die Initiative "Pro Windkraft" wollen damit Seehofers 10H-Gesetz zu Fall bringen. Ihr zentrales Argument: "Laut Bundesbaugesetzbuch besteht die Pflicht, der Windkraft ausreichend Raum zur Verfügung zu stellen", sagt Stümpfig. "Mit 10H missachtet der Freistaat diese Vorgabe komplett, deshalb ist das Gesetz rechtswidrig." Ein Termin für die Verhandlung steht noch nicht fest.

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: