Profil:Rabbi Chaim Kanievsky

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(Foto: wikimedia/CC BY-SA 4.0)

Instanz in allen Lebensfragen, dem die Welt da draußen fremd ist.

Von Peter Münch

Die Welt da draußen ist ihm fremd. Sein Haus in Bnei Brak, mit steilen Stufen und Gittern vor den Fenstern, verlässt Rabbi Chaim Kanievsky nur selten. Sein Leben hat er dem Studium der heiligen Schriften gewidmet, an guten Tagen soll er bis zu 17 Stunden lesen. Doch wenn er einmal aufblickt von den Büchern und das Wort ergreift, dann hat dieses Wort Gewicht, als sei es Gesetz. Von seiner Gefolgschaft wird Rabbi Kanievsky fast wie ein Heiliger verehrt. Er gilt als letzte Instanz in allen Lebensfragen. Und das wird in Israel gerade zum Problem.

Der 93 Jahre alte Rabbiner ist in das Zentrum der Debatten darüber geraten, dass beträchtliche Teile der ultra-orthodoxen Gemeinschaft die vom Staat gesetzten Regeln zur Corona-Bekämpfung unterlaufen. Beerdigungen mit Zehntausenden, große Hochzeitsfeiern, regelwidrig geöffnete Schulen und dazu noch Krawalle, wenn es die Polizei einmal wagt, dagegen vorzugehen - all das sorgt gerade für eine tiefe Spaltung im jüdischen Staat. Wegen "Verbreitung der Seuche" solle man Rabbi Kanievsky verhaften, hat sogar schon ein Kolumnist in der Zeitung Haaretz gefordert.

Die Zuspitzung mag ein wenig ungerecht sein, weil die "Haredim", die Gottesfürchtigen, eine höchst heterogene Gemeinschaft sind und die Radikalen unter ihnen oft das Bild bestimmen. Doch als spiritueller Führer der "litauischen" Gruppe, zu der ein Drittel der gut eine Million Ultra-Orthodoxen in Israel gezählt werden, hat Rabbi Kanievsky durchaus seinen Anteil am Chaos.

"Die Torah schützt und rettet uns."

Im März des vorigen Jahres, zu Beginn der Pandemie, war er in einem Video zu sehen an der Seite seines Enkels Yakov, genannt Yanki. Die Generationsfolge ist wichtig im Kosmos Kanievsky, schließlich leitet auch der heute greise Chaim einen Teil seiner Reputation davon ab, dass schon sein Vater und sein Onkel hochmögende Religionsgelehrte waren. Yankis Rolle allerdings konzentriert sich derzeit noch darauf, dass er dem schwerhörigen Großvater all die ihm gestellten Fragen direkt ins Ohr spricht. Und auf die Frage, ob man wegen dieses neuen Coronavirus nun auch die Religionsschulen schließen solle, murmelte der Rabbi, dass eine Schließung noch gefährlicher sei, als sie offen zu lassen. "Die Torah schützt und rettet uns", versprach er.

Als Gefahr sieht er es wohl vor allem an, dass die Schüler der Jeschiwot, der religiösen Schulen, bei einer Schließung ihren täglichen Halt verlieren und auf die schiefe Bahn geraten könnten. Die Welt ist schließlich voller Versuchungen, und zu seinen Aufgaben zählt es Kanievsky, die Frommen davon fernzuhalten. So hat er es zum Beispiel auch schon gehalten, als jene Smartphones aufkamen, die mit ihrem Internetanschluss den Weg zur Verderbnis ebnen. Auf der Titelseite einer religiösen Zeitung verkündete der Rabbi einen Bann über das iPhone und forderte alle Besitzer auf, das Teufelszeug den Flammen zu übergeben.

Der Rabbi hat eine Corona-Erkrankung durchgemacht

In solchen Fragen macht Kanievsky keine Kompromisse. Doch bei Corona hat er durchaus immer mal wieder seinen Kurs geändert. Das mag zum Teil damit zusammenhängen, dass ihn das Virus im Herbst erwischte. Doch schon vor seiner eigenen Erkrankung hatte er zum Tragen von Masken und zum Abstandhalten aufgerufen. Später hat er auch die Impfkampagne der Regierung unterstützt. Zwischendurch jedoch empfahl er noch den Religionsschülern, sich nicht auf das Coronavirus testen zu lassen, weil eine Quarantäne die Studien gefährde.

Ohne Kanievskys Segen jedenfalls, das hat auch Israels Premier Benjamin Netanjahu längst erkannt, geht in der Pandemiebekämpfung im religiösen Sektor nichts. Deshalb hat er neulich auch persönlich im Hause Kanievsky angerufen. Er hatte Yanki in der Leitung, zum Rabbi selbst drang er nicht vor. Doch enge Vertraute haben jüngst der New York Times versichert, dass Kanievsky den Namen des Regierungschefs von Israel sowieso nicht kenne.

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