Nato:Blick in die Grube

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Das Verteidigungsbündnis stand kurz vor dem Bruch. Wenigstens ist jetzt bekannt, wie fragil eine Allianz aus Demokratien sein kann.

Von Stefan Kornelius

Angeblich soll ein Nahtod-Erlebnis zu einem besonders klaren und präzisen Blick auf die Dinge führen. Wer das Ende schon einmal vor Augen hatte, der verschwendet keine Energie mehr auf Nebensächlichkeiten. Nach dieser Theorie wäre das weltgrößte Verteidigungsbündnis auf die nächsten Jahre gut vorbereitet. Denn in den vergangenen Jahren durfte die Nato mehr als einmal in die Grube schauen.

Es war nicht nur, aber vor allem Donald Trump, der dem Bündnis seine Endlichkeit aufzeigte - einem Bündnis, das in Wahrheit aus einem Verteidigungsanführer und 29 Verteidigungsmitläufern besteht. Die Allianz war schon immer eine schiefe Hütte, die nur deshalb so stabil blieb, weil zwei Stützbalken bestens ineinander verkeilt waren: das strategische Interesse der USA, mithilfe des europäischen Standbeins ihre globale Führungsrolle zu verteidigen - und das strategische Interesse der europäischen Staaten, mithilfe der USA ihre eigene Freiheit zu verteidigen. Von geradezu magnetischer Attraktivität entwickelte sich der demokratische Charakter des Bündnisses, der souveränen Staaten den Beitritt ermöglichte und dabei die Demokratisierung und Einhegung des Militärs garantierte.

Unter dem Anti-Allianzler Trump schien der eine Stützbalken fast zu brechen, und Russlands neue Liebe für das Militärische erschütterte die Verteidigungsgewissheit. Weil unter diesem Druck der Bündnis-Mehrwert rapide schmolz, erkannten die Gernegroßmächtigen von Ankara bis Paris das Erpressungspotenzial, das in "einer für alle, alle für einen" steckt. Das demokratische Gen der Nato wurde plötzlich zu einem Problem: Was tun, wenn einer nicht mehr für alle da ist?

Die Arbeit an einer neuen Strategie ist überfällig

Mit der Ablieferung ihres Zustandsberichts hat die Nato-Reflexionsgruppe dem Bündnis schon den wichtigsten Gefallen getan. Die Hütte ist wieder vermessen, nichts ist zerstört, aber vieles beschädigt. Die Reformempfehlungen der Gruppe sind deshalb ernst zu nehmen. Die Arbeit an einer neuen Strategie ist überfällig, weil es bereits dieser gemeinsame Nachdenkprozess über Bedrohung und Sicherheit ist, der 30 Staaten zusammenführt.

Allerdings sollte das Bündnis behutsam mit der wohl radikalsten Idee aus dem Katalog der Reformvorschläge umgehen: der Abschaffung der Einstimmigkeit jenseits der Ministertreffen, also bei Entscheidungen, die von Beamten gefällt werden. Mehrheitsentscheidungen auch auf unterer Ebene werden eine gegenteilige Wirkung entfalten: Weniger bedeutende Angelegenheiten werden zu bedeutenden Angelegenheiten stilisiert und erst recht in der Hierarchie nach oben geschoben, Kompromisse auf Arbeitsebene werden kaum ausgehandelt. Das lähmt den allemal zähen Apparat.

Viel wichtiger ist es, die Ursache der Identitätskrise der Nato zu erkennen: die Demokratiemüdigkeit in vielen Mitgliedsstaaten. Es sind die Autokraten, die den demokratischen Mehrwert der Nato geringschätzen, weil er nicht in ihren Kram passt. Dabei ist es exakt jene in freier Entscheidung gewählte Mitgliedschaft in der Allianz, die für all jene als Bedrohung empfunden wird, die ansonsten nur mit Knüppel und Drohungen für Gefolgschaft sorgen können.

Die Nato, sie hat lediglich einen französischen Präsidenten, der gerne von europäischer Souveränität träumt und das böse Wort vom Hirntod fallen ließ. Das allerdings kam zur rechten Zeit.

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