Ursula von der Leyen:Im Feuer

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Ursula von der Leyen besucht eine Sitzung des Europaparlaments: Die Deutsche darf nicht länger Konflikten mit Mitgliedstaaten ausweichen. (Foto: Olivier Hoslet/dpa)

Die Pandemie könnte zu einer solidarischeren, finanziell eigenständigeren EU führen. Doch Kommissionspräsidentin von der Leyen muss ihre Macht richtig nutzen, sie muss die Konflikte annehmen und ausfechten.

Von Björn Finke

An diesem Dienstag ist es genau ein Jahr her, dass Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission anfing. Doch eine Pressekonferenz zu ihrer Bilanz richtet die Deutsche erst einmal nicht aus - wegen der festgefahrenen Verhandlungen mit Großbritannien. Die CDU-Politikerin befürchtet, der leidige Brexit würde alle anderen Themen überschatten. Und auch sonst herrscht in Brüssel in diesen Tagen mehr Krisen- als Feierstimmung. So blockieren Polen und Ungarn gerade den EU-Etat mitsamt Corona-Hilfstopf.

Der düstere Rahmen für den Jahrestag ist in gewisser Weise passend. Schließlich wurde von der Leyens bisherige Amtszeit ebenfalls von einer gewaltigen Krise dominiert, der Pandemie. Allerdings ist Krise seit jeher fast ein Dauerzustand der EU; irgendwo brennt es immer, und je größer und einflussreicher die Union wurde, desto mehr feuergefährdete Ecken gibt es. Die Pandemie ist aber eine besonders schlimme Krise - und unter von der Leyen antwortete die EU besonders kühn: mit einer Initiative, welche die Präsidentin mit einer Macht ausstattet, von der ihre Vorgänger nur träumen konnten. Die große Frage ist nun jedoch, was die Deutsche mit dieser Macht anfangen wird.

Jene Initiative besteht aus einer zwölfstelligen Zahl: Die Mitgliedstaaten beschlossen im Sommer einen 750 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfsfonds, zusätzlich zum üblichen EU-Haushalt. Die Kommission soll damit wirtschaftsschwache Länder bei Reformen unterstützen. Geld bedeutet Gestaltungsmacht - und noch nie hatte ein Kommissionspräsident nur annähernd so viel davon. Außerdem wird die Behörde für den Topf Schulden machen. Um diese einfacher zurückzahlen zu können, soll die EU künftig eigene Steuern erheben können. Das ist ein weiterer gewaltiger Schritt hin zu mehr europäischer Integration.

Die Klimakrise beschert Brüssel ebenfalls mehr Macht

"Europa wird in den Krisen geschmiedet werden", prophezeite Jean Monnet, einer der Gründerväter der EU. Und dieses politische Konstrukt werde die Summe aller Antworten auf jene Krisen sein. Die Pandemie könnte jetzt zu einer solidarischeren, finanziell eigenständigeren EU führen: mit von der Leyen an der Spitze.

Eine andere Krise, die Klimakrise, beschert Brüssel ebenfalls mehr Macht. Vor der Pandemie erklärte von der Leyen den Kampf gegen die Erderwärmung zu einem der wichtigsten Projekte ihrer Amtszeit - eine sinnvolle Wahl. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich auf ehrgeizige Klimaziele, und der Kommission obliegt es nun, den nötigen Wandel der Wirtschaft mit scharfen EU-Gesetzen und cleveren Förderprogrammen zu begleiten.

Machtzuwachs für Brüssel ist natürlich kein Selbstzweck; es ist nichts, was automatisch Lob verdient - ganz im Gegenteil. Doch Klimawandel ist eben ein Paradebeispiel für ein Problem, bei dem ein Staat alleine überfordert ist. Und sollten die Milliarden aus dem Corona-Topf wirklich dazu beitragen, dass Länder wie Italien ihre Wirtschaft auf Trab bringen, wäre das gleichfalls ein gutes Investment, das den Zusammenhalt der Union stärken würde.

Von der Leyen stehen vier Jahre voller Konflikte bevor

Aber all das könnte auch fürchterlich schiefgehen. Die schönen grünen Gesetze könnten im zähen Politikbetrieb stecken bleiben, weil manchen Regierungen, etwa der polnischen, der Ehrgeiz Brüssels dann doch zu weit geht. Der Geldsegen aus dem Corona-Topf könnte in Projekten versickern, die nicht viel bringen - oder schlimmer noch in dubiosen Kanälen landen, etwa bei den Oligarchenfreunden des autoritären ungarischen Premiers Viktor Orbán. Der Aufschrei wäre gewaltig in Mitgliedstaaten wie den Niederlanden, deren Regierung den Fonds ohnehin sehr kritisch sieht. Und die Stimmung wäre vergiftet.

In dem Fall wäre von der Leyen 2024, am Ende ihrer Amtszeit, nicht die Präsidentin, die Brüssels Einfluss gemehrt und Europas Ökonomien begrünt hat - sondern eine Präsidentin, die ihre Chancen nicht genutzt hat, zum Schaden der EU. Damit das nicht passiert, muss sie ihren Stil ändern. Es reicht nicht, pathetische Reden zu schwingen: Von der Leyen muss auch manchmal den offenen Konflikt mit renitenten Regierungen suchen, muss sie in die Schranken weisen und Druck machen.

So ist ihre vornehme Zurückhaltung gegenüber Ungarn ein Ärgernis. Polen und Ungarn erpressen gerade die EU: Die Regierungen stimmen dem Etat nicht zu, weil sie eine neue Klausel ablehnen. Diese erlaubt es, Fördergeld zu kappen, wenn Länder den Rechtsstaat demontieren. Das ist überfällig - und wird wegen des Corona-Topfs noch wichtiger. Generell sollte von der Leyen bei dem Fonds auf harte Auflagen und Kontrollen drängen, damit Mittel nicht verschwendet werden. Dass Italien und Spanien dies als unbotmäßige Einmischung ansehen würden, ist kein Hinderungsgrund, sondern Ansporn.

Von der Leyen stehen also vier Jahre voller Konflikte bevor. Sie muss sie annehmen und ausfechten, denn der Preis des Scheiterns wäre hoch. Wegducken geht nicht mehr.

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