Mehr Macht, mehr Geld, mehr Einfluss - das kleine Wort "mehr" birgt große Verheißungen. Für den Einzelnen, für die Wirtschaft, aber auch für die Demokratie. Viele Bürger wünschen sich mehr Beteiligungsmöglichkeiten. Sie sind, unabhängig von der Corona-Krise, unzufrieden damit, wie die Demokratie hierzulande funktioniert. Doch was tun? Prominente Politiker wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble setzen große Hoffnungen in Bürgerräte - geloste Gremien, die Entscheidungsträger zu konkreten Themen beraten. So erarbeiten derzeit 160 zufällig ausgewählte Deutsche bis Mitte März in einem Bürgerrat Empfehlungen für die Politik zu "Deutschlands Rolle in der Welt" - erstmals im Auftrag des Bundestages. Der Ansatz ist vielversprechend.
Bürgerräte setzen dort an, wo die Demokratie als besonders verletzlich erscheint. Eine ihrer größten Schwachstellen ist, dass sich vor allem sozial schlechter Gestellte abgehängt sehen und sich politisch wenig beteiligen, während die gebildeten mittleren Schichten oftmals den Diskurs dominieren. Auf Dauer gefährdet das den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Auch deshalb sollen beim Bürgerrat des Bundestags alle Bevölkerungsteile repräsentiert sein, gerade auch jene, die sonst nicht mitreden.
Ziel ist es, eine Art "Mini-Deutschland" abzubilden und Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in einen Austausch zu bringen. Sicherstellen soll dies ein mehrstufiges Losverfahren. Beispiele aus dem Ausland sowie die Erfahrungen mit dem "Bürgerrat Demokratie" 2019 in Deutschland zeigen, dass dies funktionieren kann.
Diskutiert wird wegen der Pandemie online und in Kleingruppen. Experten vermitteln Wissen, um so die Basis für eine sachorientierte Diskussion zu schaffen. Moderatoren sorgen dafür, dass jeder zu Wort kommt und am Ende gemeinsame Lösungsvorschläge stehen, auch wenn der Weg dorthin mühsam ist. Insofern kann ein Bürgerrat auch eine Schule der Demokratie sein sowie ein Gegengift gegen die Verlotterung der Diskurskultur.
Die Rollenverteilung ist klar: Bürger empfehlen, Politiker entscheiden
Es ist wichtig, dass der neue Bürgerrat eng an die Politik angebunden und die Rollenverteilung klar ist: Bürger empfehlen, Politiker entscheiden. Wenn die Teilnehmer allerdings am 19. März ihr "Bürgergutachten" dem Bundestag übergeben, müssen die Abgeordneten danach keinerlei Rechenschaft darüber ablegen, was sie davon umsetzen und was aus welchen Gründen nicht. Für Politiker ist das bequem, für manche Teilnehmer womöglich frustrierend. Das schadet dem Projekt.
Es geht schließlich auch darum, dass sich Bürger als wirksame Mitglieder der Gesellschaft erfahren und die Bindekraft zwischen Wählern und Gewählten wieder wächst. Diese Chancen werden derzeit nicht ausreichend genutzt. Es ist zudem kein gutes Signal an die Bürger, dass sich der Bundestag an den Kosten des 1,8 Millionen Euro teuren, aus Spenden finanzierten Projekts nicht beteiligt.
Dennoch: Dass der Bundestag einen neuen Beteiligungsansatz erprobt, belebt die Demokratie. Bürgerräte allein retten sie nicht, aber sie können zu ihrer Stärkung beitragen - wenn es nicht bei einzelnen Initiativen bleibt. Der Ruf nach mehr Beteiligung darf allerdings nicht den Blick verstellen auf das, worum es im Kern gehen sollte: Bürger besser beteiligen. Gebraucht werden passgenaue Innovationen, welche die repräsentative Demokratie sinnvoll ergänzen. Bürgerräte sind ein zukunftsweisendes Instrument - und ein guter Anfang.