Bürgerbeteiligung:Volksvertreter aus dem Lostopf

Bürgerrat zu 'Deutschlands Rolle in der Welt'

Sie wollen neue Formen der Bürgerbeteiligung erproben (von links): Claudine Nierth von "Mehr Demokratie", Bürgerrats-Vorsitzende Marianne Birthler (Bündnis 90/Die Grünen) und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) - hier beim Auftakt des Bürgerrats im Januar.

(Foto: Michael Kappeler/dpa)

160 vom Zufall ausgesuchte Menschen reden im Netz über Deutschlands Rolle in der Welt. Die sogenannten Bürgerräte sollen die Demokratie beleben. Doch was macht der Bundestag mit ihren Empfehlungen?

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Es wird wohl turbulent werden, aber auch interessant. Von diesem Mittwoch an werden in ganz Deutschland verteilt Bürgerräte darüber debattieren, was "Deutschlands Rolle in der Welt" sein soll. Es geht um heikle, moralisch aufgeladene Themen: Soll die Bundeswehr bewaffnete Drohnen anschaffen? Sollen deutsche Soldaten im Ausland kämpfen? Wie weit reicht die Solidarität in Europa? Alles digital, 160 ausgeloste Menschen machen mit, 16 bis 90 Jahre alt, Deutsche darunter und Zugezogene, sie haben einen Hauptschul-Abschluss oder das Diplom einer Universität. Der eine oder die andere musste sich dafür die erste E-Mail-Adresse zulegen oder ein Tablet bekommen. Aber nun reden sie, und am 19. März sollen ihre Empfehlungen öffentlich dem Bundestag überreicht werden. Die Abgeordneten sollen wissen, was die Leute da draußen umtreibt.

Man konnte am Mittwoch schon erahnen, wie leidenschaftlich es zugehen kann, wenn Menschen aus unterschiedlichen Milieus und mit entsprechenden Ansprüchen diskutieren. Da saßen vorne in der Bundespressekonferenz der Schirmherr, die Vorsitzende und die Hauptorganisatorin dieses neu gegründeten Bürgerrates - Wolfgang Schäuble, Marianne Birthler und Claudine Nierth. Alle drei eint der Wunsch, die Demokratie robuster und lebendiger zu machen. Und trotzdem waren sie keineswegs einer Meinung.

Beispielsweise darüber, was im Bundestag mit den Ergebnissen des Bürgerrates geschehen soll. Lesen, lachen, lochen und ab in die Ablage - das dürfe jedenfalls nicht passieren, sagt Birthler, die einstige Bürgerrechtlerin und langjährige Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde: "Es muss nach der Übergabe öffentliche Reaktionen geben."

Bundestagspräsident Schäuble weist darauf hin, dass er ja nicht Vorgesetzter der Abgeordneten sei, diese seien bekanntlich frei in ihrer Entscheidung. Es könne passieren, dass sie gegen die Empfehlungen des Bürgerrates stimmten. Im Übrigen werde die Arbeit der Abgeordneten in den zahlreichen Arbeitsgruppen, Ausschüssen und Gremien oft unterschätzt. Sie seien permanent in Meinungsbildungsprozessen - und gerade ebenfalls dabei, demokratische Prozesse mit den digitalen Kommunikationsmitteln einzuüben. Auf dem Parteitag der CDU am Samstag werde ja erstmals digital ein neuer Vorsitzender gewählt, "da haben wir gestern eine Generalprobe gemacht".

"Gelesen, gelacht, gelocht wird es nicht geben", verspricht die Initiatorin

Nierth, die Vorsitzende des Vereins Mehr Demokratie, lobt, dass sich alle Fraktionen im Bundestag dafür ausgesprochen hätten, Deutschlands Rolle in der Welt zu diskutieren. Schon im Vorfeld hätten sie sich engagiert, um die Empfehlungen "anschlussfähig" zu machen - "gelesen, gelacht, gelocht wird es nicht geben".

In den Räten wird sich wohl jeder mal so fühlen wie Schäuble, der starr geradeaus schaut, als Birthler ihre ganz persönliche Erfahrung mit der Freiheit nach der Wende wiedergibt: "Die freien Bundesbürger waren gar nicht so frei", wie sie erwartet habe, sagt die Ostdeutsche, "sie hatten hundert Gründe, mit der eigenen Meinung hinter dem Berg zu halten". Sie habe sich oft gefragt, warum diese Bürger ihre Freiheit nicht jeden Tag nutzen und genießen würden, sie hätten doch anders als die Bürger in der DDR weder Knast noch Überwachung noch Bildungs- oder Berufsverbot zu fürchten: "Dann stellte sich heraus, sie hatten andere Ängste, Ängste um die Karriere, Beliebtheit, um Zugehörigkeit und Anerkennung und den Job und die nächste Gehaltserhöhung."

450 Euro für 42 Stunden diskutieren

Birthler kritisiert, dass Sternstunden im Parlament, also Debatten mit ungewissem Ausgang wie im Juni 1991, als es um Berlin oder Bonn als künftige Hauptstadt ging, zu selten seien. Es sei "manchmal ein bisschen ermüdend, dass uns nur vorgeführt und begründet wird, was längst in den Ausschüssen und Fraktionen ausdiskutiert wurde. All das irritiert und stört mich bis heute." Schäuble äußert sich dazu nicht, warum auch, grundsätzlich fühlt sich der dienstälteste CDU-Abgeordnete ja auch verbunden mit der grünen Bürgerrechtlerin, im Ringen um die Demokratie. Am Ende vermitteln sie die Erkenntnis, dass Bürgerräte kein Allheilmittel sein werden, aber die Lust an der Debatte fördern und Brücken zwischen Politik und Gesellschaft schlagen können.

Die Kosten sind überschaubar, alles inklusive sind gut 1,8 Millionen Euro veranschlagt, darin eingeschlossen sind die 450 Euro, die jeder ausgeloste Rat erhält für 42 Stunden diskutieren.

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