ZDFneo-Serie "Himmel & Erde ":"Ich muss, glaube ich, in den Krieg"

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Zara (Alina Sokhna, l) und Olja (Valeriia Berezovska) feiern mit ihren Mitbewohnern Oljas und Petjas Hochzeit. (Foto: Nataliia Khalan/dpa)

Ukrainische Filmschaffende erzählen in fünf fiktiven Geschichten, wie sie sich gerade in Deutschland fühlen. Mit überraschender Wohlfühlatmosphäre und verblüffendem Ergebnis.

Von Lilly Brosowsky

Tagesaktuelle Geschehnisse fiktiv zu verarbeiten, bedeutet für Filmschaffende einen enormen Zeitdruck. Das kann aber grandios werden, wie ZDFneo schon mehrfach bewiesen hat. Während der Pandemie hat der Sender das Format der Instantserie entwickelt: Kurze Folgen über aktuelle Themen, die in einem Zeitraum von wenigen Monaten produziert werden. Zwischen Juli und Oktober ist eine solche Instantserie entstanden: Himmel & Erde, in Anlehnung an die Farben der ukrainischen Flagge. Blau für den Himmel und goldgelb für das Korn auf ukrainischen Feldern.

In fünf fiktiven Geschichten erzählen Filmschaffende aus der Ukraine in ihrer Sprache mit Untertitel, wie es sich anfühlt, jetzt in Deutschland zu sein. Und das ist sehenswert. Nicht nur, weil es authentisch und zeitnah ist, sondern weil hier ein dringend notwendiger Perspektivenwechsel angeboten wird.

Im Heile-Welt-Alltag in Deutschland wird der Krieg zum Hintergrundrauschen

In Folge eins stellt Olgas deutscher Mitbewohner fest, dass er sich das Zusammenleben mit ihr anders vorgestellt hat. "Sie fühlt sich wie ein Fremdkörper an," sagt er, was hart klingt. Und Olga? Die will, versteht man schnell, gar nicht in Deutschland sein, wo ihr alles unwirklich vorkommt. Auch nachvollziehbar.

Szenen wie diese sprechen das deutsche Publikum direkt an, werden aber nie übermäßig kritisch. Denn Olga sitzt doch irgendwann - gar nicht mehr wie ein Fremdkörper - am WG-Küchentisch und erreicht ihren Freund in Kiew dank stabilen Internets. Das wirkt hier fast ein bisschen zu sehr nach heiler Welt: mehr Lichterketten, mehr Glitzer, Diversität in der WG-Runde, stabiles Internet?!

Ganz anders beginnt die zweite Folge: Die Schwestern Jaroslava und Nika kommen Nachts in Berlin an. Ihr deutscher Vermieter bedrängt sie einen Vertrag zu unterzeichnen, den sie nicht verstehen. Die zugeklebten Fenster sollen verschlossen bleiben. Was soll das? Wer ist er? Einer von denen, die ukrainische Frauen am Bahnhof abfangen und sie statt ihnen zu helfen in die Prostitution zwingen? Eine der beiden sackt zitternd an der Wand zusammen, die Anspannung ist greifbar. Dann die Wendung: Die zwei verlassen fluchtartig die Wohnung, kommen bei netten Leuten unter. Plötzlich ist alles gut: Tischtennis spielen, kochen, lachen.

Der rote Faden der Serie ist die Frage: Wie umgehen mit dem "unwirklichen" Leben in Deutschland, dem Heile-Welt-Alltag, während der Krieg in der Heimat für die Geflüchteten allgegenwärtig ist? Diese Frage entwickelt sich wie ein Crescendo, das der schon länger in Deutschland lebende Ukrainer Nestor in Folge fünf gänzlich unerträglich findet. "Ich muss, glaube ich, in den Krieg in die Ukraine", sagt er, aber kann es eigentlich gar nicht fassen: Vor der Untätigkeit in Deutschland an die ukrainische Front zu fliehen? Oder im Krieg zu sich selbst finden, wie die deutsche Fotografin Andrea in der letzten Folge? "Endlich mache ich jetzt Fotos von etwas, das von Bedeutung ist", erzählt sie ihrer ukrainischen Freundin Lisa, die nach Berlin geflohen ist. Andrea will in Kiew bleiben, trotz Bombeneinschlägen und Lisas inständiger Bitte dieses Land, das nicht ihres ist zu verlassen. Die Serie lässt Zuschauende nach jeweils knapp 20 Minuten ratlos und betroffen zurück. Aber gerade dass vieles unerzählt bleibt, macht sie sehenswert.

Himmel & Erde , in der ZDF-Mediathek.

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