US-Serien:Die Party ist noch nicht vorbei

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Mit Sprühsahne und Superkräften: Das Serienfinale beantwortet alle offenen Fragen rund um die telepathisch verbundenen Protagonisten von Sense 8. (Foto: Netflix)

Als Netflix die Fantasy-Serie "Sense 8" absetzte, war der Protest so heftig, dass nun ein Abschlussfilm gezeigt wird. Es ist nicht das erste Mal, dass Fans lautstark mitbestimmen, wann Schluss ist.

Von Jürgen Schmieder

Wer die Wut von Teenagern unterschätzt, der ist selbst schuld, auch wenn die Verantwortlichen des amerikanischen TV-Senders ABC im November 1994 nun wirklich nicht damit rechnen konnten, den adoleszenten Furor derart geballt abzubekommen. Sie hatten das Drama My So-Called Life, das die Sorgen und Nöte von Teenagern zum ersten Mal im US-Fernsehen ohne Häme thematisierte, nach nur einer Spielzeit abgesetzt. Es gab jedoch bereits diese neuartigen Internet-Chaträume, und in einem davon organisierten Steve Joyner und Robyn Landis den ersten kollektiven Versuch, eine abgesetzte Serie zu retten - und gleichzeitig einen der ersten überlieferten Shitstorms in der Geschichte des Internets. So etwas wie ein, nun ja, Hashtag gab es auch: "Operation Life Support" nannten Joyner und Landis ihren Protest.

Heute regt sich im Netz andauernd irgendwer über irgendwas auf. Hin und wieder jedoch, da entsteht tatsächlich ein zielgerichteter Wirbelsturm, weil sich die Leute nicht einfach nur der Aufregung wegen echauffieren, sondern um ein Ziel zu erreichen, das ihnen wirklich am Herzen liegt. Die Verantwortlichen des Streamingportals Netflix hatten im vergangenen Jahr die Fantasyserie Sense 8 abgesetzt, und die Fans protestierten derart leidenschaftlich unter dem Hashtag #BringBackSense8, dass das Streamingportal nun seit Freitag einen Abschlussfilm zeigt. "Man könnte in dieser Welt sehr leicht daran glauben, dass der Einzelne keine Veränderung herbeiführen kann", schrieb die Erfinderin der Serie, Lana Wachowski, in einem offenen Brief an die Fans der Serie. "Es ist jedoch etwas Unwahrscheinliches und Unerwartetes passiert: Eure Liebe hat Sense 8 zurück ins Leben gerufen - und dafür könnte ich jeden einzelnen von Euch küssen."

In der Fantasy-Serie geht es um mehrere Menschen aus verschiedenen Ländern, die auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sind und auf die erstaunlichen Fähigkeiten und Kenntnisse der anderen zugreifen können. Ein optisches Erlebnis, erzählerisch bahnbrechend. Die zweite und letzte Staffel endet mit einem Cliffhanger, der eine Fortführung andeutete - genau deshalb reagierten die Fans so aufgebracht, als Netflix-Programmchef Ted Sarandos vor einem Jahr verkündete: "Die Zuschauer waren leidenschaftlich dabei, es waren aber nicht genug, um ein derart gewaltiges Projekt finanziell zu stemmen."

Begeisterte Zuschauer starten Petitionen und schicken auch mal ein Flugzeug mit Banner los

In der derzeit extrem erfolgreichen Geschichte von Serien kam es immer wieder vor, dass das Publikum eine abgesetzte Produktion durch lauten Protest wiederbelebt hat. Ende Mai erst verkündete Jeff Bezos höchstpersönlich, dass Amazon die vom US-Sender Syfy abgesägte Serie The Expanse in eine vierte Staffel schicken wird. Zuvor hatten Fans rund 100 000 Unterschriften für die Fortführung der Science-Fiction-Serie gesammelt - und ein Flugzeug mit einem "Rettet The Expanse"-Banner über Amazons Niederlassung in Los Angeles kreisen lassen.

Die Gründe, warum Serien wie diese trotz begeisterter Fan-Community abgesetzt werden, sind erst mal einleuchtend. Hohe Produktionskosten (geschätzte neun Millionen Dollar soll eine Folge von Sense 8 kosten) und fehlende Zuschauer. Andererseits wird die von Netflix-Sprecher Sarandos zitierte Leidenschaft des Publikums offenbar nicht berücksichtigt. Dabei rühmt sich das Portal dafür, die Vorlieben der Zuschauer über Datensammelei und einen ausgefeilten Algorithmus besser zu kennen als TV-Sender mit ihren schnöden Quoten. Die Verantwortlichen gingen sogar so weit zu sagen, dass Misserfolge und Enttäuschungen quasi ausgeschlossen seien.

Es gibt keine Einschaltquoten bei Netflix und auch keine Werbetreibenden, die interessieren könnte, wie viele Leute eine Serie gucken. Netflix veröffentlicht bis heute kaum Daten zu einzelnen Produktionen, man zählt vor allem die weltweiten Abonnenten (125 Millionen im ersten Quartal 2018). Warum also achtete das Unternehmen dann ausgerechnet bei Sense 8 auf die Zahl der Zuschauer? Und ist der Algorithmus vielleicht doch nicht so ausgeklügelt?

Wie lässt sich die Leidenschaft messen, mit der das Publikum eine Serie verfolgt?

Es mag möglich sein, die Sehgewohnheiten der Zuschauer zu erfassen, aber es scheint nicht so deutlich messbar zu sein, wie leidenschaftlich die Zuschauer eine Serie wirklich verfolgen.

Das gilt nicht nur für Netflix. Es gibt derzeit einige Serien, die erst abgesetzt und dann wiederbelebt worden sind. Die Polizeikomödie Brooklyn Nine-Nine wurde nach der fünften Spielzeit vom Sender Fox nicht verlängert und nach Protesten - unter anderem von Regisseur Guillermo del Toro und Schauspieler Mark Hamill - vom Konkurrenten NBC eingekauft. Die Komödie Last Man Standing wechselte von ABC zu Fox, beim Drama Lucifer und bei der Krimiserie Sherlock suchen die Produzenten gerade nach einer neuen Plattform. Das könnte dauern, wie etwa das Geschacher um die Sitcom Arrested Development zeigt, die von 2003 bis 2006 bei Fox lief. Einige unveröffentlichte Folgen wurden 2013 schließlich bei Netflix gezeigt, und gerade wurden die ersten acht Folgen der fünften Staffel freigeschaltet.

Es wäre zu einfach, all die Wechselspiele allein auf Proteste der Fans zurückzuführen. Es hat vielmehr damit zu tun, dass sich der Erfolg einer Serie nicht mehr einfach nur an den Einschaltquoten ablesen lässt. Bei TV-Sendern gibt es drei Kriterien: Wer guckt live? Wer guckt noch am gleichen Tag? Wer guckt innerhalb von sieben Tagen nach der Erstveröffentlichung? Streamingportale können sich den Luxus leisten, eine Serie als Prestigeobjekt zu nutzen, weil es dort ausschließlich um Abonnements geht - und manchmal hat der Erfolg überhaupt nichts mit der Qualität zu tun: Brooklyn Nine-Nine war am Sonntagabend zu sehen, auf diesem Sendeplatz wird auf Fox in der kommenden Spielzeit eine Partie der Footballliga NFL zu sehen sein.

Bei Sense 8 dagegen waren es laut Machern tatsächlich die heftigen Proteste, die zu einem zweieinhalbstündigen Abschlussfilm geführt haben, und ohne zu viel verraten zu wollen: Die Fans dürften sehr zufrieden sein damit, wie Lana Wachowski die losen Enden der Serie zusammenführt.

Bei der Teenagerserie My So-Called Life übrigens hat es damals nicht zu einer Fortsetzung auf dem Bildschirm gereicht, es gab nur den Roman "My So-Called Life Goes On". Gerüchte um eine mögliche Fortsetzung aber halten sich hartnäckig, auch wenn Hauptdarstellerin Claire Danes kürzlich in einer TV-Show sagte: "Ich weiß nicht, wir haben es damals nicht mal eine komplette Spielzeit geschafft." Ohne die Teenager von damals erneut verärgern zu wollen: Das sieht nicht gut aus.

© SZ vom 11.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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