Geschichte der Göhrde-Morde:Chronik eines Versagens

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"Das Geheimnis des Totenwaldes": Barbara Neder (Silke Bodenbender) flieht durch den Wald. (Foto: NDR/ConradFilm, Bavaria Fiction/NDR/ConradFilm, Bavaria Fiction)

Getragen von einem überragenden Matthias Brandt erzählt "Das Geheimnis des Totenwaldes" fiktiv von einem der spektakulärsten Kriminalfälle der Bundesrepublik.

Von Peter Burghardt

Eine Frau im weißen Kleid läuft durch einen Wald, in dem der Nebel hängt. Sie rennt über Farne und Moos. Sie dreht sich um, ein entsetzter Blick, ein Schrei. Mit diesen Bildern erwacht ein Mann im Pyjama durchgeschwitzt aus einer Gewitternacht.

Ständig diese Alpträume, sie lassen ihn nicht los, den pensionierten Hamburger Polizeichef, der im Film Thomas Bethge heißt und im richtigen Leben Wolfgang Sielaff, gespielt von einem unfassbar guten Matthias Brandt. Er schlurft ins Bad. "Ich hätte sie finden müssen", sagt er. So beginnt dieser fast reale Krimi des Jahres.

Das Geheimnis des Totenwaldes nennt sich der ARD-Dreiteiler. "Frei nach wahren Begebenheiten", liest man im Abspann und später unter "Fachberatung" zwei Namen, darunter den von Wolfgang Sielaff. Dies ist die Überhöhung und Verdichtung eines Stücks deutscher Kriminalgeschichte. Es ist die leicht verfremdete Version der Göhrde-Morde, die zu den bekanntesten und rätselhaftesten Verbrechen der Republik gehören. Und es ist der ganz persönliche Fall des Wolfgang Sielaff, der als Thomas Bethge in Gestalt von Matthias Brandt seine vermisste Schwester sucht.

"Die Realität ist oft abgefahrener als alles, was man sich ausdenken kann"

Das Erste hat dafür einen doppelten Kraftakt hingelegt. Fiktion und Wirklichkeit, alles in allem mehr als sechs Stunden. Der Spielfilm, ein bestens besetztes Meisterstück, dauert in drei Folgen viereinhalb Stunden. Ein Thriller, dessen Ende man schon am Anfang kennt, aber der trotzdem spannender ist als jeder Tatort oder sonstige Ausfluss der Krimiflut. Denn, so der Regisseur Sven Bohse: "Die Realität ist oft abgefahrener als alles, was man sich ausdenken kann." Der ganzen Realität der Göhrde-Morde widmet sich dann eine ebenfalls dreiteilige ARD-Dokumentation mit Archivaufnahmen und Zeitzeugen wie dem richtigen Wolfgang Sielaff. Titel: Eiskalte Spur.

Sommer 1989. Im Nordosten der Bundesrepublik herrscht Panik wegen zweier Doppelmorde im Staatsforst Göhrde, unweit von Lüneburg. Noch heute kann es einen gruseln, wenn man von Hamburg Richtung Wendland fährt und an dem Gebiet vorbeikommt. Mindestens zwei Liebespaare werden damals in diesem Wald erschossen, mit einiger Sicherheit vom Friedhofsgärtner Kurt-Werner W., vier Leichen liegen im Unterholz. In einer Montagegrube unter Ws. Garage stoßen Wolfgang Sielaff und seine Helfer dann 2017 auf die Gebeine von Birgit Meier, geborene Sielaff - fast drei Jahrzehnte nach ihrem Verschwinden.

Sielaff führte das Landeskriminalamt Hamburg an und war bis 2003 stellvertretender Polizeipräsident. Ein erfolgreicher Beamter, erprobt im Kampf mit dem Milieu. Bei der Untersuchung des Göhrde-Mysteriums und der offiziellen Fahndung nach seiner Schwester allerdings durfte er nicht mitmachen. Zuständig ist die Kripo Lüneburg, Niedersachsen. Doch deren Interesse hielt sich in Grenzen, dabei lag der Verdacht auf der Hand. Der Täter, daran besteht längst kein Zweifel mehr, war Kurt-Werner W. Er könnte sogar noch deutlich mehr Menschen umgebracht haben. Aber W. stand nie vor Gericht und kann nichts mehr erzählen, er erhängte sich 1993 in U-Haft. Als Pensionär und auf eigene Faust stieß Sielaff ein Vierteljahrhundert danach auf die sterblichen Reste seine Schwester.

Der mutmaßliche Mörder ist ein Schönling mit kaltem Blick

Immer wieder fliegt die Kamera über die Baumwipfel des Totenwaldes, die Namen und Orte sind in der Verfilmung verändert. Die Göhrde wird zum Iseforst, Lüneburg zu Weesenburg, Birgit Meier zu Barbara Neder (Silke Bodenbender), ihr Ehemann Harald zu Robert Neder (Nicholas Ofczarek), der mutmaßliche Mörder W. zu Jürgen Becker (Hanno Koffler), dem abgründigen Schönling mit dem kalten Blick. Da ist die hilfreiche Kollegin Anne Bach (Karoline Schuch). Der leibhaftige LKA-Leiter Sielaff verwandelt sich wie gesagt in den LKA-Leiter Bethge, verkörpert von Matthias Brandt, ein Glück.

Brandt und Sielaff haben sich vor den Dreharbeiten getroffen, der Schauspieler und der ehemalige Polizist. Zumindest die fiktive Welt der Verbrechen kennt Matthias Brandt gut, er war TV-Kommissar. Den echten Sielaff wollte er nicht spielen. Er wollte eine eigene Figur schaffen, "von der man hofft, dass sie schlüssig ist", wie er sagte. Das gelingt, Alterung inklusive, denn am Anfang ist die Schöpfung Bethge Ende vierzig und am Schluss Mitte siebzig, wenn man Sielaff als Maßstab nimmt. Brandt musste für Folge drei jedes Mal stundenlang in die Maske.

Er ist der ruhige und zwischenzeitlich deprimierte Kriminalist, den das Rätsel um Barbara um den Schlaf bringt. Brandt sei im Film "anders als ich", sagt Sielaff in einem ARD-Interview, seinem vorerst letzten. "Ich selbst bin viel aktiver, beharrlicher und überhaupt nicht resignativ gewesen." Doch jeder Zuschauer ahnt so oder so den Schmerz. Und die Wut auf die Kollegen von Polizei und Staatsanwaltschaft in der Nachbarschaft. "Ein derartiges Maß an Desinteresse, Unterlassungen, Versäumnissen und Fehlentscheidungen ist mir noch nicht untergekommen", sagt Sielaff. Es ist die Chronik eines gespenstischen Behördenversagens.

Unfassbar, dass die Ermittler Haus und Grundstück von W., in Das Geheimnis des Totenwaldes Jürgen Becker genannt, am Waldrand seinerzeit nicht genauer durchwühlten, Spuren ignorierten und Asservate vernichten ließen. Obwohl bei einer Durchsuchung 1993 vor der Flucht und dem Suizid des Verdächtigen bereits ein vergrabener Sportwagen mit Leichengeruch und ein verstecktes Zimmer mit Waffen, Gewaltpornos, Kanülen und Hakenkreuzen ausgehoben worden waren. Obwohl sein Vorstrafenregister lang war, obwohl er auch noch mit weiteren Taten zu tun gehabt haben könnte. Eine bei ihm sichergestellte Handfessel mit Blutspuren lag 27 Jahre lang bei der Medizinischen Hochschule Hannover, ehe 2016 festgestellt wurde, dass es sich um Barbaras Blut handelte. Im Film fällt im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Göhrde-Mörder auch das Wort "V-Mann". Und was ist mit dessen jüngerem Bruder, im Film sein scheuer Nachbar, der alles wissen könnte und nichts verrät? Ist er der Komplize, ein möglicher Mittäter?

Die Dramaturgie im Totenwald weicht ab von dem, was man vom Original der Göhrde-Morde weiß

2018 ließ eine neue "Ermittlungsgruppe Göhrde" den früheren Garten von W. umpflügen und förderte Autoteile, Handtaschen, Damenschuhe, Feldstecher, Geldbörsen, Messer und weitere Ausgrabungen zutage. 400 Fundstücke, im Netz wird noch immer nach Hinweisen gefahndet. 2018 wurde auch klar, dass Birgit Meier, die im Film Barbara Neder ist, durch Kugeln starb. Das ergab die Obduktion.

Die Dramaturgie im Totenwald weicht ab von dem, was man vom Original der Göhrde-Morde weiß, es ist ja ein Spielfilm. So taucht zum Beispiel eine inhaftierte Kiezgröße im Polizeipräsidium auf und erschießt einen Staatsanwalt, seine Frau und sich selbst, was sich tatsächlich zugetragen hat, aber schon 1986. "Nur die Freiheit der Erzählung ermöglicht es, das Allgemeinhaltige hinter dem Drama zu erzählen", meint Stefan Kolditz, der das Drehbuch verfasst hat. Doch in ihrer Essenz ist die Handlung so, wie es war oder gewesen sein könnte. Und im Mittelpunkt, das ist die große Leistung, steht nicht ein Serienkiller. Es geht vor allem um die Opfer. Das sind auch jene, die 28 Jahre lang keine Gewissheit über ihre Mutter, Tochter, Schwester, Ex-Frau hatten. Barbaras Ex-Mann, also Sielaffs alias Bethges Schwager, wurde vom Staatsanwalt sogar selbst verdächtigt. Für die Familie ein Martyrium.

Als man Wolfgang Sielaff um ein Gespräch bittet, sagt er freundlich ab, er steht für öffentliche Termine nicht mehr zur Verfügung. Er hatte gehofft, Abstand zu gewinnen, als seine Schwester Barbara im November 2017 beerdigt werden konnte. Aber Sielaff merkt, wie ihm die Vergangenheit zusetzt. "Nach langer Zeit des Wartens haben wir nun die Gewissheit, dass das Schicksal von Barbara vollständig geklärt ist", hieß es in der Traueranzeige. "Es ermöglicht uns endlich ein würdiges Abschiednehmen von Birgit Meier." Birgit Meier, geboren 1948 als Barbara Sielaff, ermordet im August 1989. Entdeckt im September 2017 von ihrem Bruder, Hamburgs Polizeichef im Ruhestand.

Das Geheimnis des Totenwaldes , Das Erste, 20.15 Uhr

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