Was für ein Aufwand: Stromgeneratoren, Mischpulte und armdicke Kabelstränge verbinden Profikameras und Bildschirme - und dann muss auch noch die Satellitenschüssel richtig ausgerichtet sein. Wenn Live-Bilder von aktuellen Ereignissen an Menschen in aller Welt gehen sollen, konnte das bis vor Kurzem nur das Fernsehen erledigen. Ein mit teurer Technik vollgestopfter Übertragungswagen, besetzt mit einem mehrköpfigen Team, musste ausrücken. Und erst, wenn die Verbindung ins Studio stand, konnte der Reporter vor der Kamera live zum Publikum sprechen. All das war bisher das Privileg der Profis, vor allem jenen der im Schnitt 78 Sender, die in deutschen Haushalten zu empfangen sind.
Doch dieses Monopol gibt es nicht mehr. Heute braucht man für eine Live-Sendung nur noch ein Handy. Billig, simpel, in Sekundenschnelle gestartet und ohne jede Aufsicht, zum Leidwesen deutscher Behörden.
Video-Apps für Smartphones bieten seit ein paar Monaten jedem die Möglichkeit, zum Sender zu werden, live und theoretisch mit einer ähnlich großen Zuschauerzahl wie beim echten Fernsehen. Meerkat und Periscope heißen die bekanntesten Anwendungen. Drei Millionen Menschen können jetzt schon jederzeit auf Sendung gehen, mit der ganzen Welt als potenzielles Publikum: Die kleinen Programme, die in wenigen Minuten auf das Handy geladen sind, nehmen per Knopfdruck Live- Videos auf, spielen sie über die Datenverbindung auf einen Server und machen sie quasi im gleichen Augenblick der ganzen Welt zugänglich. Jeder kann zuschauen. Und das Ganze läuft derzeit ohne Lizenz und Kontrolle durch Medienwächter. Sie wollen das nun ändern.
"Wir brauchen neue Regeln, um besser mit den neuen Entwicklungen umgehen zu können", fordert Jürgen Brautmeier, Vorsitzender der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten. Das ist das Gremium, in dem die Aufsichtsbehörden der einzelnen Bundesländer über die privaten Radio- und Fernsehprogramme zusammenkommen. Die Gesetze und Staatsverträge seien "veraltet", sind auf den Ausspielweg Live-Stream nicht ausgerichtet. Eigentlich müsste alles geprüft werden, was so ähnlich aussieht wie traditioneller Rundfunk.
Persicope und Meerkat sind kleine TV-Studios für die Hosentasche, mit denen jeder mit einem aktuellen Handy und einem schnellen Datenvertrag auf Sendung gehen kann. Spontaneität statt Inszenierung ist das Motto der Stunde. Kleine Fenster zu Welt öffnen sich dann: Der Guardian berichtete vor einigen Monaten ohne Verzögerung von den Ausschreitungen in Baltimore, Menschen versenden Live-Selfies, zeigen sich beim Spaziergang, beim Kiffen oder Shoppen. Alles, was ein Einzelner zeigen will, egal wie banal oder interessant, landet sofort im Netz, wo es potenziell Millionen sehen können.
Wer dagegen klassisches Fernsehen machen will, mit einer theoretisch sogar kleineren Reichweite, benötigt eine Genehmigung der zuständigen Landesmedienanstalt. Absurd eigentlich: Für den Nutzer macht es ja keinen Unterschied, über welchen Kanal gesendet wird. Aber so ist eben die jetzige Gesetzeslage. Ein Live-Stream wird zwar schon jetzt, nach den alten Gesetzen, als Rundfunk gewertet - aber nur, wenn er einem regelmäßigem Programmschema folgt. Nur auf Abruf verfügbare Angebote wie Youtube zählen darum nicht: Sie senden ja nicht im klassischen Sinn an Zuschauer, die zeitgleich zusehen.
Manche Livestreams sind bereits zu kommerziellen Angeboten mit tausenden Zuschauern geworden
Auch die Reichweite spielt eine Rolle. Im Rundfunkstaatsvertrag wird die Zahl von 500 potenziellen Empfängern genannt, weniger sind kein Rundfunk. Diese Zahl sei "Unsinn", meint Jürgen Brautmeier, der angesichts der schnellen Entwicklung gegen das Festschreiben von Zahlen ist: "Solange nur experimentiert wird, muss man nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen." Noch seien die Streams zudem weit von einem redaktionellen, journalistischen Programm entfernt. Kontrollieren würde er dennoch gerne, im Ernstfall: zum Beispiel wo es um Jugendschutz oder um Werbung geht.
Wobei es durchaus schon Live-Streams gibt, die das Experimentierstadium verlassen haben und zu kommerziellen Angeboten geworden sind. Rocket Beans TV zum Beispiel. Nach dem Aus ihrer Videospiele-Sendung Game One auf MTV Ende 2014 startete die Produktionsfirma einen Internetkanal, der rund um die Uhr Programm liefert, einiges davon live. Meistens hat ihr Stream mehrere tausend Zuschauer gleichzeitig. Finanziert wird das durch Werbung, Sponsoring und freiwillige Abos.
Prinzipiell wäre eine solche Professionalisierung auch auf Periscope und Meerkat möglich. Es gibt dort schon erste Nutzer, denen tausende Fans folgen - ZDF-Moderator Jan Böhmermann zum Beispiel. Zwar blenden die Dienste derzeit noch keine Werbung ein. Sich selbst zu vermarkten wäre aber jedem Nutzer möglich. Doch wenn Werbegelder ins Spiel kommen, gelten Regeln - unklar ist nur, wer diese kontrolliert und wie sie sich bei der Masse der Angebote im Internet durchsetzen lassen. Was übrigens auch für Urheberrechte gilt. Periscope-Nutzer kamen schnell auf die Idee, etwa die Übertragung des Boxkampfs Floyd Mayweather Jr. gegen Manny Pacquiao abzufilmen, für die Pay-TV-Kunden bis zu 100 Dollar hätten zahlen müssen.
Ein wenig Ordnung wäre also wohl nicht schlecht. Wobei eine Sendelizenz zu bekommen schon heute kein "Zauberwerk" mehr ist, sagt Brautmeier. Zwei Seiten ist der Antrag lang. Aber ist nicht selbst das zu viel des Guten in dieser sonst eher sparsam regulierten Internetwelt? Brautmeier ist da realistisch: "Wir brauchen keine Vorabkontrolle, sondern eine Missbrauchsaufsicht", also eine nachträgliche Beurteilung der Inhalte statt einer Überprüfung der Sender vor ihrer Zulassung. Bis ein solches Gesetz kommt, setzen er und die Kollegen auf Gespräche mit der Branche, um Selbstverpflichtungen auszuhandeln. Wobei Live-Streamer ja nicht unbedingt einem Branchenverband angehören müssen.
Oder man macht all diese Überlegungen hinfällig und setzt auf die neueste Video-App, die vor ein paar Tagen veröffentlicht wurde: Beme, mit der sich jedes Video nur ein einziges Mal ansehen lässt. Dort im Nachhinein Rechtsverstöße zu verfolgen? Kaum möglich.