Sportübertragungen:Spiel im Abseits

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"So einen Start habe ich in 30 Jahren noch nicht erlebt": Volker Drews hat bei der Live-Übertragung des Pokalfinales in Berlin Regie geführt. Beobachtungen aus dem Ü-Wagen.

Von Harald Hordych

Es sind noch 56 Minuten bis zum Anpfiff. Da beginnt für Volker Drews und sein Team im Ü-Wagen der ARD das 76. Endspiel um den DFB-Pokal zwischen Bayern München und RB Leipzig viel zu plötzlich mit den Worten: "Wir sind drauf!" Das ist eine Überraschung von der fußballerischen Kategorie drei Tore in einer Minute. Drews wird hinterher sagen, dass er so einen Start in 30 Jahren noch nicht erlebt hat.

Auf dem minutiösen Ablaufplan der Live-Übertragung aus dem Olympiastadion stand 19.14 Uhr. Kurzfristige Änderung: 19.08 Uhr. Darauf hatten sich die acht Leute, die in diesem Teil des abgedunkelten Ü-Wagens in zwei Reihen hintereinander vor einer Monitorwand sitzen, eingestellt. Sie hatten lange geprobt und gecheckt, ob alle Zuständigen einsatzbereit, alle Kameras gut positioniert, alle Sprechverbindungen intakt sind. Aber dann fängt das Spiel, das im Ü-Wagen gespielt wird, vier Minuten früher an als abgesprochen.

Vier Minuten mehr Sendezeit, weil es wie aus dem Nichts in der Sendezentrale in Frankfurt ein technisches Problem mit der Werbung gegeben hat, können bei einer Livesendung eine Ewigkeit sein, besonders für den Moderator, und für alle mitleidenden Menschen hinter den Kameras und an den Mischpulten. Drews sagt schnell, aber sehr entspannt mit ruhiger Stimme: "Kamera zwei, Gerhard leg los."

Und Gerhard Delling moderiert los. Wortgewandt und fachkundig, wie man ihn kennt, und wie durch einen verrückten Zufall stehen schon eine Weile zwei bekannte Herren wartend neben ihm am Moderatoren-Tisch vor der Bayernkurve: Oliver Bierhoff und Jogi Löw, die ein paar Minuten zu früh sind. Und so wird das Interview mit den beiden tatsächlich tiefschürfender, als man das bei einer so vollgepackten Sendung erwarten durfte. Volker Drews wird am Ende der Sendung sagen, als er den Kopfhörer von den Ohren gestreift hat: "Das ist live. Du weißt einfach nicht, was passiert."

Drews, 58, ist der Regisseur, der für das Gelingen der gesamten Live-Übertragung die Verantwortung hat. Seit 1988 führt er Regie bei etlichen sportlichen Großveranstaltungen wie Olympischen Spielen und inzwischen sieben Fußball-Weltmeisterschaften. Stets im Ü-Wagen, was ein sehr niedliches Wort ist für den riesigen Sattelzug, in dem an diesem Samstagabend 15 Menschen in vier Räumen arbeiten. So eng und dicht wie sie beieinandersitzen, müsste man eigentlich von einem Ü-Boot sprechen, einer fensterlosen, mit Monitoren und blinkenden Schaltpulten vollgestopften Röhre. Tatsächlich könnte man hier 500 Meter unter der Meeresoberfläche unterwegs sein. Vom Spiel nebenan ist hier drinnen nämlich nichts zu hören, vom Aufschrei der mehr als 70 000 Menschen nichts zu spüren.

In dem Bereich wird dem Regisseur oft nicht mal ein Name im Abspann gewidmet

Regie, das ist ein Wort, das mächtig nachhallt, weil der Film- und Fernsehregisseur die gesamte Verantwortung des künstlerischen Projekts innehat. Nicht wenige Regisseure sind flamboyante Persönlichkeiten, und wenn sie Hitchcock, Coppola oder Spielberg heißen, sind sie sogar legendär. Doch die Namen der Regisseure von Großveranstaltungen kennt so gut wie keiner. Beim ZDF läuft gegen Ende der Name des Regisseurs mit vielen anderen über den Schirm, bei der ARD gibt es das nicht mehr. "Das ist doch nur was für die Verwandten und Freunde, die sich dann freuen", sagt Drews und zuckt mit den Achseln. "Wir sind ein Team, das gemeinsam funktionieren muss, da muss keiner hervorgehoben werden. Jeder ist wichtig."

Die große Monitorwand im Ü-Wagen der ARD während der Übertragung des 76. DFB-Pokalendspiels. Die beiden Monitore "Regie 1" zeigen das aktuell gesendete Bild, für das sich Drews entschieden hat. (Foto: Harald Hordych)

Zum Spiel trägt er ein Jeanshemd, mit einem Gruß für jedermann und einem neckenden Spruch für alte Bekannte, läuft er alle Kamera-Stationen ab, prüft, ob der Moderatorentisch an der richtigen Stelle steht. "Ich bin dafür verantwortlich, dass das Gesamtbild so ist, wie es der Zuschauer gern sieht." Wer oder was wann und wie lange und aus welcher Perspektive an diesem Fußballabend gezeigt wird, darüber hat Drews die letzte Entscheidung. Wer interviewt wird und welche Beiträge gezeigt werden, entscheiden dagegen zwei Redakteure, davon einer vom zuständigen Sender RBB, die später neben ihm im Halbdunkel sitzen. Drews ist der Herr der Bilder.

Neben Drews sitzt die Bildmischerin Kathrin Krupski, sie drückt die Knöpfe, die das Bild je einer Kamera zum exklusiven Sendebild macht. "Heli-Kamera", sagt Drews, "jetzt Kamera zwei auf Delling/Friedrich". Beim Interview sind die beiden so eingespielt, dass Krupski genau weiß, wann sie nach einer Frage oder Antwort sagen muss: "Warnung zwei." Dann drückt sie den Knopf. "Zwei kommt." Drews lässt sie gewähren, sagt aber zum Mann an der Steadicam am Moderatorentisch: "Zieh mal zurück, auf Totale, mit Tribüne, sehr schön!" Dieser Anweisungspingpong hat nur Pause während des Spiels. Darum kümmert sich ein Kollege, der einen Ü-Wagen weiter sitzt, der "Regisseur international" dirigiert die Kameras der Firma Sportcast, bei der die DFL die Bilder einkauft und vermarktet. Sportcast entscheidet, was in der Welt und auch in Deutschland vom Spiel zu sehen ist. Drews, Krupski und die Slow-Motion-Spezialisten, die in der zweiten Reihe mit dem Highlight-Redakteur Sepp Meyer zusammensitzen, sind im Einsatz, wenn der Ball ruht - ihre Zeit ist vor dem Spiel, in der Pause und nach dem Spiel. Trotzdem hat die ARD zwölf Kameras im Stadion, für die Nebenschauplätze, für den Interviewtisch, die beiden Interviewerinnen im Innenraum, für den VIP-Raum und die Fankurve nach dem Spiel. Es gibt sogar eine Kamera, die das Spiel aufnehmen könnte, wenn das internationale Signal ausfällt, plus Notstudio mit zwei Kameras im Stadionkeller. Wenn das Spiel dann läuft und das Team durchatmen kann, wird der ARD-Ü-Wagen zum beengten Wohnzimmer, St.-Pauli-Fan Drews murmelt: "Das beste Endspiel seit vielen Jahren." Die Bildmischerin ruft einem Leipziger zu: "Lauf! Lauf! Lauf!" Nur einmal, als die Slow-Motion-Abteilung laut aufstöhnt, sagt Drews freundlich: "Wir sind zur Neutralität verpflichtet, auch hinten auf der Bank." Echte Dramatik kommt für ihn abseits des Spielfeldes auf, wenn die Zuschauer mit Interviews, Aufstellungen und vorproduzierten Beiträgen aufgewärmt werden, in der Pause die Kommentatoren die Highlights besprechen, und wenn das lange Nachspiel beginnt, die Freude und die Trauer, die Feier in der Fankurve und die Gespräche mit dem siegreichen Trainer und den erschöpften Spielern. Dann schickt Drews seine Kameraleute los, für eigene Bilder vom Jubel.

Eigentlich ist Drews gelernter Sportredakteur, der seit 1988 für den SWR in Baden-Baden moderierte, kommentierte und Hintergrundbeiträge verantwortete. Allrounder nennt er das. 1991 besuchte er ein Regie-Seminar, weil das Regieführen brach lag, dann begann er mit Studio-Regie. Damals war er für drei bis fünf Kameras zuständig. Auch bei der ersten Live-Übertragung von einer Dressurmeisterschaft war das Repertoire noch überschaubar. Aber als die Fußball-Übertragungen auch von den Privatsendern entdeckt wurden, zog die ARD nach, und Drews war beim Länderspiel Deutschland gegen Bulgarien für 36 Kameras zuständig, bis heute sein persönlicher Rekord.

Volker Drews hat bei vielen Live-Übertragungen der ARD Regie geführt. Auch beim DFB-Pokalfinale sagte er: "Kamera 2, bitte." (Foto: Harald Hordych)

Die Regie des Spiels liegt nun bei anderen. Aber Drews trauert der Aufgabe nicht nach. Sie sei sehr fordernd neben den vielen Geschichten, vor und nach dem Spiel, die erzählt und dargestellt werden wollen. "Und ich werde ja auch nicht jünger." Bei einem Spiel dieser Bedeutung muss er immer noch 26 Kameras im Auge haben, einschließlich der Weltbildkameras, die Namen tragen wie "Heli-Kamera" oder "Beauty-Kamera" für die atmosphärischen Bilder auf Berlin im Sonnenuntergang.

Am Ende der Berliner Nacht sagt Volker Drews: "So wir sind runter. Vielen Dank an alle." Er geht aus dem Ü-Wagen, zum Sammelplatz mitten in der Ü-Wagenburg von Sky, ARD, ZDF, dem österreichischen Servus-TV, wo sich alle an den Chili-con-Carne-Töpfen treffen. Drews holt seine Gitarre aus dem Bus und bringt Gerhard Delling zu seiner letzten Sendung ein Ständchen. 13 Jahre hat er "Delle" und Netzer auf ihrer Fußball-Tour begleitet. Im Stadion war er während des Spiels so gut wie nie.

© SZ vom 28.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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