Schwerpunkt zum Jahrestag:Die Wunden von Winnenden

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Öffentliche Trauer: Nichts blieb ungesendet nach dem Amoklauf von Winnenden. Auch vieles, was in den Medien falsch lief, hat Wunden hinterlassen. (Foto: Boris Roessler/dpa)

Vor zehn Jahren tötete ein 17-Jähriger bei einem Amoklauf bei Stuttgart 15 Menschen. Augenzeugen und Hinterbliebene berichten von der Tat. Und von rücksichtslosen Journalisten.

Von Stefan Mayr

Elena hat fünf Schüsse abbekommen. Die Narben an ihrem rechten Unterarm erinnern sie täglich an den Amoklauf von Winnenden vor zehn Jahren. Am 11. März 2009 starben ihre drei besten Freundinnen direkt neben ihr. Sie selbst überlebte schwer verletzt und kämpfte sich zurück ins Leben. Heute, zehn Jahre später, erzählt sie von jenen Minuten, in denen der 17-jährige Täter Tim K. das Leben von 15 Menschen beendete und das von vielen Hunderten zerstörte.

Anlässlich des zehnten Jahrestags des Amoklaufs erinnern viele Medien an die Tat und ihre Folgen. Der Südwestrundfunk hat einen opulenten Multimedia-Schwerpunkt erarbeitet, mit ungekürzten Mitschnitten aus Pressekonferenzen und weiterem Archiv-Material sowie einer TV-Dokumentation Die Wunden des Amoklaufs - Winnenden 10 Jahre danach. Der 45-minütige Film zeigt bewegende Bilder vom Tatort und bewegende Aussagen von Betroffenen zehn Jahre danach. Man muss nur Elenas Augen sehen, um ermessen zu können, was so eine Tat mit jemandem macht. In allen Beiträgen geht es um die Frage nach dem Warum, um die körperlichen wie seelischen Verletzungen, um die Waffengesetze. Und um den Umgang rücksichtsloser Journalisten mit den Opfern und ihren Hinterbliebenen.

Winnenden, 11. März 2009, 9.30 Uhr. Tim K. geht mit einer Beretta-Pistole und 285 Schuss Munition durch die Albertville-Realschule. Er tötet acht Schülerinnen, einen Schüler, drei Lehrerinnen. Auf seiner Flucht erschießt er weitere drei Menschen und dann sich selbst. Keine Stunde später sind die ersten Journalisten in dem 27 000-Einwohner-Städtchen bei Stuttgart und senden Bilder von verzweifelten Menschen. Später zeigen sie die schier unendliche Fläche an Grablichtern, Kerzen, Blumen und anderen Gedenk-Utensilien am Tatort. Und dann gibt es noch ein anderes Bild: "Lasst uns in Ruhe trauern", steht da auf einem Plakat. Es wurde von innen an ein Fenster geklebt, versehen mit einem schwarzen Kreuz, ein verzweifelter Versuch von Winnendern, sich die übergriffige Medienmeute vom Hals zu halten. Denn, man muss das zehn Jahre danach so klar sagen: Während Lehrer, Polizei und Behörden an diesem 11. März 2009 und danach ziemlich viel richtig machten, lief bei der Berichterstattung etliches schief.

Nicht alle verhielten sich rücksichtslos und pietätlos. Aber viele. Vor allem die Jäger nach Fotos von Opfern. Diese zu veröffentlichen, ist zwar ein klarer Verstoß gegen das Recht am eigenen Bild, das auch nach dem Tod eines Menschen gilt. Aber Boulevard-Journalisten war - und ist - das egal. Sie legen viel Geld auf den Tisch, um an solche Bilder zu kommen. SWR-Mann Knut Bauer berichtet von Reportern, die im Winnender Fotogeschäft mit Geldscheinen wedelten, um Konfirmationsfotos der getöteten Schüler zu bekommen.

Eine andere Unsitte: Ein Magazin druckte das Foto des Täters auf der Titelseite. Damit betrieb es eine Art der Glorifizierung, die so manchen Nachahmer antreiben kann nach dem Motto: Tim K. hat es auf die Seite eins geschafft, das kann ich auch. Zehn Jahre nach Winnenden darf festgestellt werden: Es braucht nicht nur klarere Regeln für Waffenbesitzer, sondern auch für Journalisten, die auf der Jagd nach dem besten Bild und Text viel Schaden anrichten und Betroffene ein zweites Mal traumatisieren.

Der SWR ist da behutsamer vorgegangen. Neben Schülerin Elena kommen Mütter zu Wort und ein Polizist, der damals für die Spurensicherung die Leichen untersuchte. Manche hatten noch den Stift in der Hand. Der Polizist berichtet mit geröteten Augen, wie er später Eltern durchs Schulhaus führte. Sie wollten nur eines wissen, aber das ganz genau: Wie ist mein Kind gestorben? Sie versuchten, das Unbegreifliche zu begreifen. Manche haben das geschafft, manche nicht. Es gibt Eltern, Schüler, Lehrer und Polizisten, die bis heute berufsunfähig sind.

Eine der vielen Fragen, die auch zehn Jahre danach unbeantwortet ist: Wo verläuft die Grenze zwischen Informationspflicht und Sensationsgier? Wie macht man das Unfassbare fassbar, ohne Grenzen zu übertreten? Ein gutes Beispiel gibt die Waiblinger Kreiszeitung. Das Lokalblatt berichtet sehr umfassend, sehr zurückhaltend. Und sehr lesenswert.

Am Jahrestag findet in Winnenden ein Gedenktag mit Glockengeläut und Menschenkette statt. Vorab bittet die Stadt, die Privatsphäre der Trauernden zu respektieren. Es sind Grundregeln des Anstands, an die hier erinnert wird. Voraussichtlich vergeblich.

Die Wunden des Amoklaufs - Winnenden 10 Jahre danach, SWR, Mittwoch, 21 Uhr. Und Mediathek

© SZ vom 06.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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