"Tweets von Wagner" hört auf:Schluss mit lustig

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Fragwürdige Prosa: Die Kolumne "Post von Wagner" vom 5. Februar. Quelle: Bild (Foto: N/A)

Jens Scholz sah in Franz Josef Wagner einen schrulligen Onkel und arbeitete seine Äußerungen im Satire-Account "Tweets von Wagner" auf. Aber dann sprengte der "Bild"-Kolumnist eine Grenze.

Von Felix Haselsteiner

"Liebes Mobbing-Mädchen, 11" ist der Titel der Kolumne von Franz Josef Wagner in der Bild-Zeitung vom 5. Februar, und er schreibt darin über den Suizid einer elfjährigen Berliner Schülerin. Er tut dies in seiner gewohnten Art, wie man sie aus der "Post von Wagner"-Kolumne kennt, die seit 2001 in dem Boulevardblatt steht. Er verwendet kurze, oft zusammenhangslose Sätze, springt von Assoziation zu Assoziation, stellt überaus persönliche Fragen und schließt mit dem Wunsch, sie möge glücklich "bei den Engeln" leben.

Für Jens Scholz hat Wagner mit dieser Kolumne eine Grenze überschritten. "Diese Kolumne ist gefährlich, und damit konnte ich sie nicht für Satire verwenden", sagt Scholz, der seit 2013 den Twitter-Account "@tweetsvonwagner" betreibt - oder vielmehr bis zum 5. Februar betrieb. Dann hat er ihn gelöscht.

"Ich hatte aus rein linguistisch-literarischer Sicht eine gewisse Faszination für Herrn Wagner, der darüber hinaus in seiner ganz eigenen Welt zu leben scheint", sagt Scholz, wenn man ihn danach fragt, was ihn dazu angetrieben hat, lange Zeit Tag für Tag die Wagner-Kolumne in der Bild-Zeitung satirisch aufzuarbeiten. Und so twitterte Scholz Botschaften über seinen Fake-Wagner-Account, die so abgehackt und erratisch waren, wie der echte Bild-Kolumnist täglich schreibt, und es las sich wirklich alles sehr lustig.

Für Scholz war Wagner, den er nie getroffen hat, eine Kunstfigur, kein realer Mensch. Es habe zwar immer wieder Momente gegeben, in denen er den Account hinterfragt hätte, etwa dann, wenn Wagner "latent homophobe" Kolumnen schrieb, wie Scholz sagt. "Er war wie dieser komische Onkel, den man in der Familie hat, der ab und an anstößige Sachen von sich gibt, die man ihm aber verzeiht, weil er ein alter Mann ist."

Die Kolumne, die Wagner an das elfjährige Mädchen schrieb, war nicht mehr die komische Ansicht eines Kolumnisten, sondern Gegenstand einer presseethischen Debatte. Für sehr viele las sich die Kolumne so, als würde er den Suizid verherrlichen, und tatsächlich schreibt Wagner, das Mädchen sei nun an einem Ort, an dem es "keine Klassenkameraden/innen, die gemein sind, Dich ärgern" mehr gäbe.

Es ist genau diese Art der Berichterstattung, vor der die Stiftung Deutsche Depressionshilfe in ihrem Leitfaden warnt, und es ist vor allem die Glorifizierung, die die Kolumne von Wagner so gefährlich macht. Suizid als mögliche Lösung eines Problems darzustellen, ist unverantwortlich. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention betont, wie wichtig es sei, den Suizid nicht zu romantisieren und zu idealisieren, doch genau das tut Wagner mit seiner Erzählweise. "Er wirkte auf mich fast angeregt von der Geschichte des Mädchens", sagt Scholz.

Er zog notgedrungen einen Schlussstrich: "Um so zu schreiben wie er, musste ich mich in seinen Kopf reindenken, nur, das konnte ich nach diesem Text einfach nicht mehr", sagt Scholz, der als Social-Media-Berater arbeitet. Er beendete den beliebten Account auch, weil er sich selbst schützen wollte: "Wenn ich das übergangen hätte und auf die nächste Wagner-Kolumne gewartet hätte, zu der mir ein guter Gag eingefallen wäre, das wäre nicht in Ordnung gewesen. Irgendwann ist der Spaß vorbei."

© SZ vom 11.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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