Reporterfabrik:Unsichtbare Klassenzimmer

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Prominente Dozenten: Moderatorin Sandra Maischberger unterrichtet „Talkshow“, Blogger Sascha Lobo unterrichtet „Neuland“ und Regisseurin Doris Dörrie „Dramaturgie“. (Foto: Getty/dpa)

Revolution oder Größenwahn? Die Reporterfabrik will eine Journalistenschule für alle sein. Vor einem Jahr ist sie online gestartet - mit prominenten Dozenten.

Von Arno Makowsky

Das Baby ist nackt, bis auf eine Schwimmweste. Es schreit, als die Helfer es ihrer Mutter aus dem Arm nehmen und aus dem schwankenden kleinen Boot nach oben reichen, an Bord des Rettungsschiffes Sea -Watch 3. Die NDR-Reporterin Nadia Kailouli filmt die Szene mit dem Handy, ihr Kollege Jonas Schreijäg steht mit der Kamera auf dem Beiboot und nimmt auf, wie mehr als 50 Geflüchtete behutsam, einer nach dem anderen, in Sicherheit gebracht werden.

Jetzt sitzt Reporterin Kailouli in einem Sessel in einem Hamburger Fernsehstudio. Wieder laufen Kameras. Sie schildert ihre Arbeit auf dem Rettungsschiff, beschreibt, wie die beiden Journalisten vorsichtig den Kontakt zu den Geflüchteten suchten, wie sie mit der Kapitänin Carola Rackete sprachen, wie sie drei Wochen lang den Alltag mit der Schiffscrew und den Geflüchteten teilten. Ein Dokumentarfilm mit schockierenden Gesprächsszenen ist so entstanden, in denen etwa junge Frauen schildern, wie sie in libyschen Flüchtlingslagern gefoltert und vergewaltigt wurden. Wie aber macht man einen solchen Film?

Solche Fragen zum journalistischen Handwerk beantworten seit einem Jahr die Online-Kurse der Hamburger Reporterfabrik. "Wie redet man mit Traumatisierten?" - "Welche Einschränkungen gab es beim Dreh?" - "Und was ist eure Botschaft?" Diese Fragen stellt nun im Fernsehstudio in Hamburg der Journalist Cordt Schnibben. Er war jahrzehntelang Reporter und Ressortleiter beim Spiegel, hat Preise gewonnen, ist Dozent an Journalistenschulen. Sein Blick durch die Brille zeigt Sympathie und kritisches Interesse, seine Fragen klingen etwas nuschelig, egal, die schneidet er später heraus. Am Ende der Interviews haben die beiden NDR-Reporter die Innenansicht einer Recherche geliefert, die an der Grenze zwischen journalistischer Distanz und persönlicher Anteilnahme verlaufen ist. Ihren Bericht wird Cordt Schnibben später zu einem Tutorial für Dokumentarfilmer verarbeiten. Das Lehrvideo wird dann jeder auf der Webseite der Reporterfabrik abrufen können.

Als "Journalistenschule für alle", in der jeder Bürger "mehr Wissen über klassische und soziale Medien" erwerben kann - so stellt sich die Reporterfabrik auf ihrer Webseite vor. In dem Text "Idee der Reporterfabrik" erklärt die ZDF-Journalistin Maja Weber das Anliegen so: "Wir möchten, dass möglichst viele Menschen verstehen, wie Medien ihr Leben beeinflussen, und was sie beachten sollten, wenn sie selbst Fotos, Videos oder Texte veröffentlichen." Darüber klebt das Logo der Reporterfabrik, ein stilisierter Radioapparat, dessen Antenne an einen Fabrikschlot erinnert.

Die Assoziation mit einem Massenbetrieb, durch den Legionen von interessierten Bürgern und angehenden Reportern geschleust und dabei mit Basiswissen über den Medienbetrieb versorgt werden, wäre aber falsch. Genau genommen verfügt die Reporterfabrik nicht einmal über eigene Räume. Die Schulungen finden ausschließlich übers Internet statt, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können Videos anklicken und sich für Tutorials anmelden. Deren Themen reichen von journalistischem Handwerk ("Drehen mit dem Smartphone"), über Wissensvermittlung über Medien ("Was wird zur Nachricht?") bis zur Analyse aktueller Phänomene ("Wie Algorithmen bestimmen, was wir lesen, sehen"). Mehr als 120 Workshops, aufgeteilt in viele kleine Tutorials, bietet die Reporterfabrik an, jeden Monat kommen neue dazu. Viele davon sind kostenlos, für andere muss man zwischen fünf und 25 Euro überweisen. Ein kleiner Betrag im Vergleich zum Angebot kommerzieller Medienakademien.

Der "Zeit"-Chefredakteur di Lorenzo gibt eine "Masterclass Chefredakteur"

Viele Dozentinnen und Dozenten der Onlinekurse zählen zu den prominentesten Köpfen des deutschen Medienbetriebs. Regisseurin und Autorin Doris Dörrie beispielsweise leitet die "Masterclass Dramaturgie"; Michael Ebert, Chefredakteur des SZ-Magazins, gibt "15 Tipps für freie Journalisten", Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo gibt eine "Masterclass Chefredakteur" und Moderator Günther Jauch klärt in einem Video, was sonst, die Frage "Wer wird Journalist?"

Junge Reporterinnen und Reporter ausbilden, die Medienrealität spiegeln und gleichzeitig die Gesellschaft voranbringen: Kann all das funktionieren? Um das herauszufinden, besucht man am besten Cordt Schnibben, in seinem Haus im Hamburger Stadtteil Winterhude, dessen Eingang ein kleiner steinerner Löwe bewacht.

Im Arbeitszimmer, inmitten enormer Bücherstapel, steht ein großer weißer Bildschirm auf dem Schreibtisch; hier werden die Videos der Reporterfabrik geschnitten. Nebenan, im Wintergarten, serviert Schnibben Tee und selbstgemachten Käsekuchen. Mit ihm am Tisch sitzt Jörg Sadrozinski, einer seiner wichtigsten Mitarbeiter. Sadrozinski hat einige Jahre lang die Deutsche Journalistenschule in München geleitet und davor das Internetportal tagesschau.de aufgebaut. Wenn man dann den beiden zuhört, wie sie von ihrer Vision einer "Bürgerakademie" sprechen und darüber, wie sie daran mitwirken wollen, dass "die Menschen den Wert von gutem und engagiertem Journalismus erkennen" (nebenbei wollen sie auch für "besseres Deutsch im Alltag" sorgen) - dann kommt man nicht umhin, das Unterfangen einerseits für etwas größenwahnsinnig, andererseits aber für hochsympathisch zu halten.

Die Reporterfabrikanten sind eindeutig auch selbst von der Idee begeistert, mit einem Angebot an die Öffentlichkeit zu gehen, das nicht den Gesetzen der durchkommerzialisierten Medienwelt gehorcht.

Der Aspekt ist wichtig, denn die meisten der namhaften Dozenten bespielen ihre Kurse ohne Honorar. "Sonst wäre das alles nicht bezahlbar", sagt Jörg Sadrozinski. Man lässt sich gern mitreißen von dem Gedanken, "die aufklärerische, konstruktive, solidarische Vision des Netzes zu verteidigen gegen die dunkle Seite, gegen Hass, Fake-News, Desinformation und Trash". So steht es auf der Webseite von Correctiv, einem gemeinnützigen Recherchezentrum. Correctiv ist zusammen mit dem Verein Reporterforum Träger der Reporterfabrik. Man sammelt Spenden und lässt sich von Unternehmen und Stiftungen sponsern, etwa der Telekom oder der Bosch-Stiftung.

Bei der zweiten Tasse Tee kommt Cordt Schnibben auf sein Lieblingsthema zu sprechen, den "Weg in die redaktionelle Gesellschaft", auf dem die Reporterfabrik mit ihrer Wissensvermittlung eine wichtige Rolle spielen könne. Es ist nämlich so: In Deutschland stehen etwa 45 000 ausgebildeten Journalisten mittlerweile eine halbe Million Blogger und andere Kommunikationsbeflissene gegenüber. Die vierte Gewalt der etablierten Medien, so sagt Schnibben, wird durch eine fünfte Gewalt bedrängt - den Leuten, die sich auf sozialen Plattformen austoben, die Shitstorms anzetteln, auch zivilisierte und wichtige Debatten. Im Prinzip kann heute jeder alles publizieren, zum Schaden und zum Wohl der Menschen. Da wäre es doch gut, sagen die Reporterfabrik-Macher, wenn all die Hunderttausenden Publizisten ein wenig Ahnung davon hätten, wie das geht: Artikel schreiben, Videos machen, Interviews führen, Debatten vom Zaun brechen. Argumente zur Kenntnis nehmen, die nicht der eigenen Meinung entsprechen.

Neulich, berichtet Jörg Sadrozinski, habe er mit Schülern einer Hamburger Stadtteilschule geübt, wie man Videos produziert. "Unglaublich, mit wie viel Spaß die dabei waren." Journalistisches Basishandwerk an Schulen vermitteln, Lehrer anregen, in ihren Klassen über Medien zu sprechen - auch das hat sich die Reporterfabrik zum Ziel gesetzt. "Reporter 4you" heißt eine Reihe mit Lernvideos, die sich Schüler und Lehrer kostenlos herunterladen können. Eines davon heißt: "Wie erkenne ich gefälschte Nachrichten, wer steckt dahinter, welche verschiedenen Fake-News gibt es?"

9500 Teilnehmer sind bislang registriert. Die Hälfte davon bezahlt für den Unterricht

Stellt sich die Frage: Kann die Reporterfabrik im täglichen Informationswahnsinn tatsächlich eine Wirkung entfalten? Ist ihre Rolle als Volksaufklärer und Journalistencoach realistisch, oder nur eine Vision? Die Zahlen sehen drei Jahre nach dem Start so aus: 9500 Teilnehmer haben sich bis jetzt registriert, die Hälfte davon bezahlt etwas. Jede Woche kommen 200 neue Anmeldungen dazu. So ganz durchdrungen ist die redaktionelle Gesellschaft also noch nicht, aber man steht ja erst am Anfang, die Online-Kurse gibt es erst seit einem halben Jahr.

Im Übrigen machen sie bei der Reporterfabrik keinen Hehl daraus, dass Medienwissen und journalistisches Know-how nicht alles sind. So schwärmt Cordt Schnibben vom Selfmade-Journalisten Tilo Jung, der auf Youtube Videos unter dem Namen "Jung und naiv - Politik für Desinteressierte" veröffentlicht. Darin begegnet er Politikern in der Rolle des unbedarften Reporters. Schnibben gewann ihn für ein Tutorial der Reporterfabrik. Titel: "Journalist werden ohne Ausbildung".

© SZ vom 02.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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