Pressegeschichte:Wundbeschau

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Zur Feier seines 70. Geburtstags lädt der "Stern" Besucher in die Redaktion am Hamburger Baumwall und lässt sie dort den größten Reinfall des deutschen Journalismus bestaunen: die Hitler-Tagebücher.

Von Peter Burghardt

Goldene Zeiten waren das beim Stern, besonders vor der Blamage. Man muss zur Feier des Tages auch daran mal wieder erinnern. "Wir hatten Geld wie Heu", berichtet Michael Seufert, Redakteur von 1970 bis 1997, davon sieben Jahre lang Mitglied der Chefredaktion. Klagen über Honorare und Spesen konterte der frühere Herausgeber Henri Nannen einst mit dem Hinweis, dass man das Geld doch nur mit beiden Händen zum Fenster hinaus werfen müsse, damit es unten schubkarrenweise durch die Tür wieder hineinkomme. Der Donnerstag war der Stern-Tag, deutlich mehr als heutzutage. Die Auflage enorm, die Anzeigengewinne ein Traum. Dann kam am 28. April 1983 das Heft mit diesem Titel heraus: "Hitlers Tagebücher entdeckt."

Ganz blöd gelaufen. Drei Tage zuvor war die Weltpresse geladen gewesen, der Reporter Gerd Heidemann schwenkte seine Trophäen. 2,2 Millionen Exemplare wurden gedruckt, den Verkaufspreis erhöhte Gruner + Jahr um 50 Pfennig auf 3,50 Mark. 9,3 Millionen Mark hatte der Stern für den Unsinn bezahlt, zwei Wochen danach flog die Fälschung auf. 35 Jahre später liegen nun ein paar Kladden in Vitrinen im schiffsartigen Verlagsgebäude am Hamburger Baumwall. Im Auditorium nebenan läuft Schtonk !, die Persiflage von Helmut Dietl. Das Gedenken an den größten Reinfall des bundesdeutschen Journalismus ist die Attraktion zum 70. Geburtstag des Stern, von den Gastgebern zum "Tag des Journalismus" ernannt.

In anderen Zeiten feierte der Stern seine Jubiläen mit Promis und Champagner. Jetzt, in den Tagen einer ganz anderen Krise, wird die historische Blamage ausgepackt, um die Vergangenheit zu entkrampfen. Bislang liegt je ein Tagebuch im Bonner Haus der Geschichte und im Hamburger Polizeimuseum, die meisten der 62 Bände lagern im Tresor des Stern. "Von mir aus hätten sie im Tresor bleiben können", sagt Seufert, aber gut, am Samstag werden sie also für vorerst acht Stunden aus dem Giftschrank geholt. "Gehen Sie hin, schmunzeln Sie mit uns", empfiehlt der Stern-Publisher Alexander von Schwerin den Gästen zur Begrüßung. "Unsere tiefste Wunde kann man da betrachten", spricht der Chefredakteur Christian Krug, und das tun dann auch einige hundert Menschen.

Transparenzoffensive: Vize-Chefredakteur Thomas Ammann (oben) und die Autoren Michael Seufert (mit Mikro) und Malte Herwig diskutieren mit Besuchern. (Foto: Markus Scholz/dpa)

Sie sehen eine Auswahl dieser 6000 Seiten, vom begabten Fälscher Konrad Kujau alias Konrad Fischer in der vermeintlichen Handschrift von Adolf Hitler vollgekritzelt. Sie lesen Sätze wie: "Die Vorbereitungen zu der Feier zu meinem Geburtstage laufen auf Hochtouren." Oder: "Göring muss ich auch befördern, sonst ist der auf diesen Titel so erbichte (so geschrieben) Mann beleidigt." Oder: "Mein lieber Heß! Dieses Buch nicht nach München ins Archiv bringen, da ich es immer wieder brauche. Es enthält das Konzept zum III. Band zum Buch "Mein Kampf". Adolf Hitler. Januar 1936."

Zu besichtigen sind Kujaus Siegelwachs, Tintenfass, Schreibfeder - und, so das Hinweisschild, "das Original-Bügeleisen, das Kujau zum Trocknen und Glätten der mit schwarzem Tee vergilbten Tagebuchseiten nutzte", letzteres eine Leihgabe des Kujaukabinetts Bietigheim-Bissingen. Das Papier hatte es zu Kriegszeiten ja noch gar nicht gegeben, wie Gutachter schnell herausfanden. Man bewundert die skurrilen Initialen auf den schwarzen Einbänden. FH statt AH, in Fraktur. Die Betrachter staunen ("der hat sich echt Mühe gegeben") und rätseln, wie der recherchegestählte Stern darauf hereinfallen konnte.

Man ahnt dagegen, wie sich der begnadete Schwindler Kujau bei der Produktion amüsierte. Daheim soll er Auserwählten erzählt haben, er arbeite gerade für den Stern, was immerhin stimmte. Fotos zeigen ihn und Heidemann nachher vor Hamburgs Landgericht (beide wurden zu Haftstrafen verurteilt), einen betreten qualmenden Nannen ("Grund, uns vor unseren Lesern zu schämen"), das Stern-Cover nach der Enttarnung im Mai 1983: "Das Protokoll einer dramatischen Woche."

Sonst lagern die gefälschten Tagebücher im Tresor des Stern. Samstag waren sie acht Stunden lang zu sehen. (Foto: Markus Scholz/dpa)

Michael Seufert war dabei, er leitete einen Teil der internen Aufklärung und schrieb später ein Buch über die Schmach, die mit jeder Erkenntnis peinlicher wurde. Das Drama hallt nach. Die Auflage sinkt nicht zuletzt seit jenem Debakel gravierend, schon lange vor dem Zeitalter des Internets. Zuletzt wurden noch 528 860 verkaufte Hefte gemeldet, ein Drittel bis ein Viertel von dazumal. Seine 88 000 Quadratmeter Ozeandampfer mit Titanzinkblech, Bullaugen und 16 Innenhöfen am Baumwall, 1990 bezogen, will Gruner+Jahr 2021 verlassen und in die HafenCity ziehen - neuen Zeiten entgegen, dem Spiegel dann ganz nah. Die Hochbahn-Haltestelle Baumwall hat sich bereits der Elbphilharmonie schräg gegenüber zugewandt.

Der Absturz auf immer noch hohem Niveau hat viel mit verflossenen Werbemillionen zu tun, mit der Konkurrenz im Netz, den sozialen Netzwerken. Das Problem betrifft die gesamte Branche, auch der Spiegel verliert kräftig, aber der bilderreiche Stern hat seine spezielle Geschichte.

Seufert und das Publikum erleben, wie der Autor David Baum und die G+J-CEO Julia Jäkel die Lage erörtern, Verlage suchen den Kontakt zu ihren Kunden. Es geht um die unheimliche Macht von Facebook und Twitter dort und guten Journalismus hier. "Wir sind kein Oldschool-Verlag", erwidert die Managerin Jäkel. Publikationen wie Beef, Beat, Crime oder Dr. von Hirschhausens Gesund Leben kamen dazu, Neon lebt nur noch dem Namen nach elektronisch weiter. Auch wird die Wundertüte Stern nach wie vor für jeden Donnerstag von preisgekrönten Schreibern und Fotografen gefüllt und hat in Hans-Ulrich Jörges einen meinungsstarken Kolumnisten, den auch Talkshowfreunde kennen.

Für die Branche ist der Fall ein Menetekel bis in die Ära Fake News hinein

Doch die Hitler-Tagebücher waren eine Zäsur, was soll man sagen. "Der Stern war ein anerkanntes politisches Blatt mit großem Gewicht", sagt Seufert. "Wir hatten dann unsere ganze Glaubwürdigkeit verloren." Er gedenkt der Nacht im Mai 1983, als sie Heidemann befragten, als von Kladden und Geld die Rede war, die aus fahrenden Autos hin und her gereicht worden seien, von Helfern in der DDR in Lebensgefahr. "Solcher Quatsch", sagt er, "mich macht das heute noch wütend." Der Regisseur Dietl habe in Schtonk nicht übertrieben und die irrsten Szenen sogar weggelassen.

Diese Gier, dieser Leichtmut der Verantwortlichen - unvorstellbar. Erstaunlich findet Seufert, wie verschwiegen das Manöver vonstatten ging, Journalisten sind selten so still. Lustig findet er im Nachhinein nur Kujau, "ein Genie", ansonsten: "Das war eine programmierte Katastrophe." Für die Szene ist der Fall ein Menetekel bis in die Ära Fake News hinein, wobei: "Ach, der Spiegel und die Hitler-Tagebücher", hat Michael Seufert mal in einem Gespräch gehört. Da dachte er, dass das Gröbste in der Sache eventuell überstanden ist.

© SZ vom 17.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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