Dokumentarfilmer Jean Boué:Die Marke Mensch

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Journalistenalltag in "Die letzten Reporter": Lokalreporterin Anna Petersen nimmt Anrufe von Leserinnen und Lesern aus Lüneburg entgegen. (Foto: NDR)

Auch seine jüngste Doku über Lokalreporter beweist, mit wieviel Humor und Ernsthaftigkeit der Filmemacher Jean Boué dem Leben in der Provinz nahe kommt.

Von Lena Reuters

Was überzeugt Leser, eine Zeitung zu kaufen? Gute Geschichten? "Bullshit, kompletter Bullshit!", sagt der Seminarleiter, während er in die ernsten Mienen der Lokalreporter blickt. 90 Prozent der Printinhalte seien weder "exklusiv noch breaking" news. Wichtig sei allein, dass die Journalisten als stadtbekannte Persönlichkeiten eine Marke sind.

In der ersten Szene des Dokumentarfilms Die letzten Reporter zeigt Filmemacher Jean Boué einen Mann der meint, den Journalismus durchgespielt zu haben, um dann in 87 weiteren Minuten zu zeigen, warum dessen Aussagen Schmarrn sind. Denn das beste Beispiel, dass gute Geschichten aus der Provinz weder "exklusiv" und noch "breaking" sein müssen, um viel über die Peripherie, eine Branche und vor allem über Menschen zu erzählen, ist Boué selbst. Dabei ist er mit seiner menschelnden, aber nicht distanzlosen Art, Filme über das Landleben zu machen, längst selbst zu einer Marke geworden - ohne sich jemals in den Mittelpunkt gestellt oder als solche vermarktet zu haben.

Die Protagonisten sind nahbar, weil sie nicht abgeklärt, sondern zweifelnd und fehlbar agieren.

Boué zeigt Orte, die allen Menschen, die auf dem Land leben oder dort groß geworden sind, gut bekannt sein dürften. Mit seiner Kamera sitzt er an Kaffeetafeln, läuft über Felder und durch Fußgängerzonen von Kleinstädten, steht auf Marktplätzen und beobachtet Jugendliche beim Ballspiel auf dem Sportplatz oder in der miefigen Turnhalle. Wer meint, das hätte man alles schon gesehen, liegt falsch. Denn während oft über die Provinz nur geschrieben und gesprochen wird, lässt Boué Akteure wie Kommunalpolitiker, Wählerinnen und Lokalgrößen selbst zu Wort kommen. Die Protagonisten sind dabei nahbar, weil sie nicht strategisch und abgeklärt, sondern zweifelnd und fehlbar agieren. In Boués Film Die Unerhörten zum Beispiel sagt ein Kommunalpolitiker der CDU einem sich beschwerenden Bürger, es tue ihm leid, er habe vergessen auf dessen Mail zu antworten. Am besten solle der Mann den Kandidaten der Linken ansprechen, der kenne sich mit Verkehrsangelegenheiten eh besser aus.

Humor und Empathie, ein Herz für das Kauzige, zeichnen Boués Filme aus. Er schafft es stets, kleine, skurrile Momente einzufangen, die das Zusammenleben von Menschen ausmachen. Die einzelnen Charaktere erscheinen teilweise schrullig - aber vor allem menschlich. Der humoristische Blick bleibt dabei stets wertschätzend und respektvoll. Die Musik des Duos Kinbom/Brandenburg untermalt und perfektioniert den leicht ironischen, unbeschwerten Sound der Filme. Das Ergebnis ist charmant und offenbart viel Sympathie fürs Mensch-Sein - ohne Probleme und Differenzen zu verharmlosen, denn Boués Blick auf die Provinz ist so eindringlich wie aufmerksam. In kleinen Aufnahmen wirft er große Fragen auf und bietet eine vielschichtige Annäherung an die Antworten: Worin zeigt sich das Stadt-Land-Gefälle? Wie entsteht das Gefühl des Abgehängt-Seins? Und wo finden Menschen ihren Platz, die sich durch die Digitalisierung überfordert fühlen?

Jean Boué. (Foto: Claus Sautter)

Geboren wurde Jean Boué 1961 in Hamburg. Dort studierte er Betriebswirtschaftslehre, Kunstgeschichte und Afrikanistik. Ohne Erfolg, wie der Filmemacher knapp auf der Webseite seiner Produktionsfirma feststellt. Durch seinen Vater, der als Unternehmer mit den Comecon-Staaten handelte, bereiste er Polen und die CSSR, Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien. In Bulgarien verliebte er sich und heiratete, wodurch er eine besondere Verbundenheit zu dem Land entwickelte.

Es verwundert deshalb nicht, dass er sich in seinen ersten Filmen Anfang der Neunzigerjahre mit dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs beschäftigte - immer mit Blick darauf, wie die Lebensrealitäten der Menschen sich veränderten. 2000 gründete Boué seine Produktionsfirma "JABfilm". Mit dieser produzierte er zahlreiche Porträts über Persönlichkeiten der Popkultur für die Arte-Reihe Ma Vie/Mein Leben, darunter Richard Branson, Cornelia Funke und Iggy Pop. Als Autor, Regisseur und Produzent widmete er sich im TV und Kino zahlreichen Themen. Er informierte über das Ebola-Virus und verbotene Gemüsesorten. Er begleitete und filmte die freiwillige Feuerwehr und Arbeitspendler zwischen Ost- und Westdeutschland. Nachdem er mit seiner Familie in die Prignitz, den am dünnsten besiedelten Teil Deutschlands, zog, lockte er 2014 in dem Film Die Prignitz lebt! das erste Mal ein brandenburgisches Dorf, Blumenthal, vor die Kamera. 2019 zeigte er in Die Unerhörten erneut seine lebendige und vielfältige Nachbarschaft, die Enttäuschten und Sturköpfe, wie er sagt. So setzte er der Frage, die ihm so oft gestellt würde, ob er da lebe, wo die Faschos wohnen, eine Antwort mit vielen Zwischentönen entgegen.

Reporter Thomas Willmann führt am Rande eines Radballturniers in Lüblow ein Interview mit den Zuschauern. Eine weitere Szene aus "Die letzten Reporter". (Foto: NDR)

In Die letzten Reporter, der nun aktuell in der ARD-Mediathek zu sehen ist, begleitet Boué drei Lokaljournalisten aus der nordwestdeutschen Provinz. Dabei stellt er die Managementebene dem Alltagsgeschäft gegenüber. In dem einen Moment wird der kleinen Zeitungsredaktion prognostiziert als "cadavers on the floor" - also als Leiche auf dem Boden - zurückzubleiben, wenn sie sich online nicht neu aufstellt. Während man im nächsten Moment beobachtet, wie die Protagonisten mit viel Einsatz, Überzeugung und aufrichtigem Interesse recherchieren, Interviews führen und Reportagen schreiben. Wir sehen den langjährigen Sportreporter Thomas Willmann mit Kugelschreiber und Notizblock am Spielfeldrand im Gespräch mit dem größten Fan des Vereins, dem Opa eines Spielers. Wir lernen den Kolumnisten Werner Hülsmann kennen, der oft so berauscht von der Originalität seiner eigenen Rhetorik ist, dass seine Fragen und Sätze etwas an Sinnhaftigkeit einbüßen. Seine trashig-poetische Promi-Kolumne "Werners Cocktail" ist in den Osnabrücker Nachrichten trotzdem eine feste Größe. Und wir treffen auf die ambitionierte Journalistin Anna Petersen, die stets gut informiert ihren Interviewpartnern begegnet. Etwa wenn sie mit einem Landwirt auf dem Acker steht, sich den missglückten Anbau einer Energiepflanze ansieht und nachhakt: "HTK steht für Hühner-Trockenkot, oder?"

Boué gelingt es auch in seinem Film Die letzten Reporter, seinen eigenen, feinen Blick auf die Herausforderungen auf dem Land zu transportieren. Selten wurde die Krise des lokalen Printjournalismus einem so unterhaltsam und so ernsthaft vor Augen geführt und gleichzeitig all den Menschen der Rücken gestärkt, die einfach nur einen guten Job machen wollen.

Die letzten Reporter, in der ARD-Mediathek

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