Die Frau, die einen der mächtigsten Schweizer Verlage in die Knie gezwungen hat, ist müde. Sie schaffe es gerade so, ihren Kindern ein Mittagessen zu kochen, sagt Jolanda Spiess-Hegglin. "Danach will ich nur noch schlafen." Sie sitzt an einem sonnigen Maitag in ihrem Büro in einem Vorort von Zug, hält sich an einer Espressotasse fest. Mehr als vier Jahre Kampf gegen den Medienkonzern Ringier liegen hinter ihr. Und irgendwie hat die schmale Frau mit den durchdringenden grünen Augen diesen Kampf gewonnen. Jolanda Spiess-Hegglin lacht kurz: Einen alkoholfreien Sekt hätten ihr Mann und sie aufgemacht, als das Gerichtsurteil vor zwei Wochen kam, immerhin war es noch nicht mal acht Uhr früh. Dann wird sie wieder ernst. "Die haben mich unterschätzt, die dachten, dass ich irgendwann nicht mehr kann."
Vor der Landammanfeier hatte sie noch keine Schlafstörungen, keine Angstzustände
Doch sie konnte. Nun muss die Schweizer Medienwelt mit einem Urteil leben, das der Boulevard-Berichterstattung enge Grenzen setzt. Und womöglich nicht nur das: Jolanda Spiess-Hegglin will noch ein zweites Urteil erreichen, eines, das Ringier finanziell "so richtig schmerzt". Es gehe ihr nicht ums Geld, sondern darum, die journalistische Branche zu disziplinieren, sagt sie. "Ich kann nicht akzeptieren, dass Ringier noch Gewinn macht mit einer Persönlichkeitsverletzung, die so lange dauerte und die mich fast das Leben gekostet hat."
Viereinhalb Jahre ist der Abend inzwischen her. Jolanda Spiess-Hegglin ist damals noch nicht so schmal wie heute, sie hat auch noch keine Schlafstörungen, keine Angstzustände. Stattdessen: eine glückliche Ehe, drei kleine Kinder und einen brandneuen Sitz im Zuger Kantonsparlament. Spiess-Hegglin, gerade 34 geworden, fällt auf im politisch konservativen Zug: Präsidentin der Grünen, jung, gut aussehend. Sie ist erst wenige Tage Abgeordnete, als sie wie alle Zuger Politiker am 20. Dezember 2014 an der Landammanfeier teilnimmt - und am nächsten Morgen mit einem Filmriss zu Hause aufwacht. Sie hat starke Unterleibsschmerzen, fährt mit ihrem Mann ins Krankenhaus. Dort äußert sie den Verdacht, K.-o.-Tropfen verabreicht bekommen zu haben und vergewaltigt worden zu sein - von ihrem Ratskollegen Markus Hürlimann, einem Mitglied der rechtskonservativen SVP. Die beiden haben sich an dem Abend angeregt unterhalten, das zeigen Fotos. Die Polizei nimmt Ermittlungen auf, Hürlimann wird vorübergehend festgenommen.
An Heiligabend dann die erste Schlagzeile. "Hat er sie geschändet?", fragt der Blick, die größte Boulevardzeitung der Schweiz, dazu Fotos von Spiess-Hegglin und Hürlimann - und die vollen Namen der beiden Politiker. Die Blick-Schlagzeile markiert den Beginn einer monatelangen medialen Schlammschlacht, intimste Details werden öffentlich gemacht. Immer wieder meldet sich auch Jolanda Spiess-Hegglin selbst zu Wort, wehrt sich gegen die Darstellung, sie habe alles nur erfunden. Was tatsächlich an jenem Abend geschah, konnte bis heute nicht geklärt werden. Das Verfahren gegen Hürlimann wird 2015 mangels Beweisen eingestellt. Er verklagt daraufhin Spiess-Hegglin wegen übler Nachrede und Falschbeschuldigung. Sie einigen sich außergerichtlich, das Verfahren wird im Mai 2018 eingestellt. Allerdings mit einem Hinweis: Spiess-Hegglin habe mit ihrer Anschuldigung nichts falsch gemacht. Sie durfte davon ausgehen, Opfer einer sexuellen Handlung geworden zu sein - auch wenn kein Täter ermittelt werden konnte. Ein Schlussstrich, schreibt die Staatsanwaltschaft.
Nicht für Jolanda Spiess-Hegglin. Sie reicht im Herbst 2017 Klage ein gegen Ringier, den Verlag, der den Blick herausgibt. Wegen Persönlichkeitsverletzung durch die Nennung ihres vollen Namens an Heiligabend. Es ist ein ungleicher Kampf, auf den sie sich einlässt: Auf der einen Seite der mächtige Verlag mit teuren Anwälten und einer enormen publizistischen Reichweite. Auf der anderen eine Frau, der abgesehen von ihrer Familie nicht viel geblieben ist. Spiess-Hegglins politische Karriere wurde durch den Vorfall jäh beendet, ihre Gesundheit ist angeschlagen, auch ihre Glaubwürdigkeit hat durch die zahllosen Schlagzeilen gelitten. Seit ein paar Jahren engagiert sich Spiess-Hegglin mit ihrem Verein "Netzcourage" gegen Hass im Internet, aber einen richtigen Job mit Einkommen hat sie nicht. Dabei haben die Prozesse viel Geld gekostet, ihre Familie musste sich von Verwandten helfen lassen.
In dem kleinen Büro geht es auf die Mittagszeit zu, Jolanda Spiess-Hegglin muss nach Hause zu den Kindern. Ihr ältester Sohn ist jetzt zwölf, inzwischen will er auch mitgucken, wenn seine Mutter im Fernsehen kommt. "Aber dann zeigen sie in einem Fernsehbeitrag eine der Drohungen gegen mich, eine, die sich gegen meine Kinder richtet - das macht ihn doch kaputt!" Sie will sich professionelle Hilfe holen, um mit ihren Kindern über das Geschehene zu sprechen. "Alleine schaffe ich das nicht."
Der Anwalt von Ringier gibt sich siegessicher, als er am 10. April am Kantonsgericht Zug sein Plädoyer hält. Sein Kernargument: An Heiligabend 2014 habe ein kantonaler Parteipräsident im Gefängnis gesessen wegen der Anschuldigung einer anderen Zuger Parteipräsidentin - das sei eine "Sachlage von höchstem politischem Niveau" und deshalb von Interesse. Es ist keine abwegige Perspektive, auch seriöse Schweizer Medien wie der Tages-Anzeiger teilen sie. Doch der Ringier-Anwalt belässt es nicht dabei. Im Gerichtssaal zeichnet er das Bild einer aufmerksamkeitssüchtigen Frau, die das Thema immer wieder "bewirtschaftet" habe, einer Lügnerin, die nicht Opfer, sondern Täterin sei. Ringier, so scheint es an diesem Mittwoch, bereut nichts.
Vier Wochen später folgt das Urteil. Es gibt Spiess-Hegglin in zentralen Punkten recht: Der Blick-Artikel von Heiligabend, so das Kantonsgericht, hat Spiess-Hegglins Persönlichkeitsrechte verletzt - unabhängig von ihrer politischen Position oder dem tatsächlichen Verlauf des Abends. Ringier muss ihr 20 000 Franken Schmerzensgeld zahlen. "Es lohnt sich, dass wir nie aufgegeben haben. Medien dürfen sich nicht alles erlauben", schreibt Spiess-Hegglin am Tag der Veröffentlichung. Man prüfe, ob man Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil einlegen werde, schreibt Ringier. Der Verlag sei "weiterhin der Meinung, dass die Feststellung einer Persönlichkeitsverletzung zu Unrecht erfolgte". Mehr will der Konzern nicht dazu sagen.
Es gibt Journalisten, die sich für das, was sie geschrieben haben, bei ihr entschuldigen
Wie es juristisch weitergeht, ist noch nicht klar. So gut wie fest steht aber, dass Jolanda Spiess-Hegglin noch einen Schritt weiter gehen will: "Ich glaube, die disziplinierende Wirkung kommt erst, wenn Medien den Gewinn aus solchen Klickorgien abliefern müssen", sagt sie in ihrem Büro. Deshalb will sie einen zweiten Prozess anstrengen, bei dem es um das Geld geht, das der Blick an ihrer Geschichte verdient hat. Laut einem Urteil des Schweizer Bundesgerichts von 2006 können Medienopfer die Herausgabe des Gewinns aus persönlichkeitsverletzender Berichterstattung einfordern - zu einem konkreten Fall ist es allerdings noch nicht gekommen. Um die 1,3 Millionen Franken, so hat der erfahrene Schweizer Online-Journalist Hansi Voigt errechnet, könnten das in ihrem Fall sein. "Ich werde einen wahnsinnig langen Atem brauchen", sagt Jolanda Spiess-Hegglin.
Wirkung zeigt ihre Geschichte allerdings auch schon ohne dieses Urteil. Die Zuger Zeitung, ein Blatt der CH-Media-Gruppe, hat sich 2017 bei ihr entschuldigt. Pascal Hollenstein, publizistischer Leiter der Gruppe, zum Zeitpunkt der Affäre aber bei einer anderen Zeitung, sagt dazu: "Wenn als Folge der Affäre die Spielräume von Medien genauer definiert werden, ist das zu begrüßen." Andere Journalisten warten nicht auf eine offizielle Entschuldigung ihrer Zeitung. Als Jolanda Spiess-Hegglin nach der Verhandlung am Kantonsgericht Zug vor die Presse tritt, ist auch ein Journalist der NZZ dabei. Er habe sich bei ihr und ihrem Mann für das entschuldigt, was er damals geschrieben hat, erzählt Spiess-Hegglin. "Das ist cool, so sollte es sein."