Drama über Fruchtbarkeitsbetrug:Opfer ohne Narben

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"Almost Family" handelt von einer Frau, die wegen eines Betrugs in einer Fruchtbarkeitsklinik Dutzende Halbgeschwister hat. Betroffene in den USA sind empört von der Serie.

Von Jürgen Schmieder

Laufen oder sterben lassen? Amerikanische TV-Sender nutzen den Herbst traditionell, um dem Publikum zu sagen, welche Formate demnächst vom Bildschirm verschwinden. Sie veröffentlichen den Spielplan für die so genannte "Midseason", also die Monate nach der Weihnachtspause. Das Fox-Drama Almost Family wird demnach noch bis Ende Januar zu sehen sein, danach wird es abgelöst. Offensichtlich war den Verantwortlichen die Umsetzung dieser Geschichte dann doch zu gruselig.

Es geht in der fiktiven Handlung, deren Vorbild die australische Serie Sisters ist, um eine junge Frau, die in der Fruchtbarkeitsklinik ihres Vaters arbeitet und feststellt, dass sie kein Einzelkind ist. Ihr Vater hat offensichtlich sein eigenes Sperma verwendet und mehr als 100 Kinder gezeugt. Der Vater wird wegen Betrugs und sexueller Nötigung angeklagt, während die Tochter versucht, ihre Halbgeschwister aufzuspüren und die Dinge halbwegs in Ordnung zu bringen. In der ersten Folge sagt sie: "Eine neue Familie zu finden ist das Beste, was mir seit Jahren passiert ist."

Dieser Satz sorgt im wahren Leben in den USA für Wut, auch wenn die Serie nicht auf einem bestimmten realen Fall basiert. Es hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Skandale um Fruchtbarkeitskliniken gegeben, in denen genau das passiert ist, was in der Serie gezeigt wird. Erst im August hatte die New York Times über Kim McMorries berichtet, der in seiner Klinik in Texas Frauen wie Margo Wiley mit seinem Sperma befruchtet haben soll. "In der Serie will die junge Frau ihren Vater umarmen", sagt Tochter Eve dem Portal The Daily Beast: "Ich will meinem Vater ins Gesicht schlagen."

Sie habe im Alter von 16 Jahren erfahren, dass der Ehemann ihrer Mutter unfruchtbar gewesen und sie die Tochter eines Samenspenders in Kalifornien sei. Sie fand den Mann, den sie für ihren Vater hielt, sie baute eine Beziehung auf und machte ihn zum Conférencier ihrer Hochzeit. Vor zwei Jahren kam der Trend auf, dass Leute über DNA-Tests ein bisschen was über ihre Herkunft erfahren konnten. Das Ergebnis: McMorries ist der Vater. "Ich konnte das alles gar nicht glauben", sagt Wiley: "Das genetische Material ist das Fundament der eigenen Existenz. Es war, als hätte mir das jemand weggenommen."

Wiley, 31, hat als Aktivistin durchgesetzt, dass solcher Fruchtbarkeitsbetrug im Bundesstaat Texas als Verbrechen eingestuft und strafrechtlich verfolgt wird. Es gibt einen bundesweiten Gesetzesentwurf und den Vorstoß anderer Aktivisten, das Einpflanzen eigenen Spermas ohne Einwilligung als Vergewaltigung zu betrachten. Wiley hat kein Problem damit, dass es die TV-Serie gibt. Sie ärgert sich über die Ausrichtung und die Vermarktung - als wäre es lustig herauszufinden, dass man 60 Halb-Geschwister hat. "Schon allein der Titel", sagt sie. Almost Family. "Es fühlt sich überhaupt nicht wie Familie an. Es ist vielmehr die Gewissheit, dass man einen anderen Menschen womöglich traumatisiert." Wenn die Taten derart verharmlost würden, "dann schadet das unserer Arbeit".

Es wird in der Unterhaltungsbranche derzeit heftig über den Umgang mit dem wahren Leben debattiert. Müssen fiktive Geschichten, die auf wahren Begebenheiten basieren, wie die Serie The Loudest Voice über den einstigen Fox-News-Chef Roger Ailes oder der Film Vice über den ehemaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney, historisch korrekt sein? Dürfen Dokumentarfilme wie Finding Neverland über Michael Jackson oder Surviving R. Kelly fast ausschließlich die Seite der mutmaßlichen Opfer beleuchten? Und darf eine Serie wie Almost Family eine derart heikles Thema als Heile-Welt-Komödie inszenieren?

Almost Family hätte sich des Sujets auf zwei Arten nähern können: als Charakterstudie dieser Kinder, die sich möglicherweise gemeinsam auf die Suche nach ihrer Identität machen - wer sie sind, was dieses Wissen mit ihnen anstellt. Oder als Krimi mit einem Schurken, wie er bösartiger kaum sein könnte. Almost Family ist beides nicht. Die Serie weicht relevanten Debatten aus, was schon daran zu erkennen ist, dass Sperma immer nur "Material"genannt wird. Die Produktion tänzelt um die wichtigen Fragen herum, die jedoch gestellt werden müssen, sie will unbedingt ein unbeschwertes Drama sein, bei dem die Opfer ohne Narben sind und der Täter beinahe sympathisch rüberkommt. Das ist gruselig, und es wird hanebüchen, wenn eines der Kinder sogar zum Anwalt des Arztes wird.

Fox hat sich zu den Debatten bislang nicht geäußert. Normalerweise ist Aufregung hilfreich für die Einschaltquoten. Die erste Folge sahen knapp vier Millionen Leute, die zweite 600 000 weniger, bei der dritten waren es nur noch ein wenig mehr als zwei Millionen. Eine deutliche Botschaft des Publikums.

© SZ vom 28.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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