Doku über "Die Welle":Fünf Tage im April

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"The Invisible Line - Die Geschichte der Welle" beschreibt das berühmte Faschismus-Experiment, das der amerikanische Lehrer Ron Jones vor 52 Jahren mit seinen Schülern unternahm. Aber der Film bleibt zu sehr in der Vergangenheit.

Von Jürgen Schmieder

Es ist unfassbar interessant, was die ehemaligen Schüler von Ron Jones über dieses Faschismus-Experiment sagen, das der Lehrer im April 1967 an der Cubberly High School im kalifornischen Palo Alto durchgeführt hat. Verstört seien sie gewesen, schockiert, traumatisiert, und Jones selbst sagt im Dokumentarfilm The Invisible Line - Die Geschichte der Welle, der nun auf dem Pay-Sender Crime + Investigation gezeigt wird: "Ich würde es nicht wieder tun. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Ich habe zahlreiche Leute in Gefahr gebracht."

Jones wollte seinen Schülern zeigen, wie einfach es sei, sich vom Faschismus verführen zu lassen, also gaukelte er ihnen vor, dass es einen nationale Jugendbewegung gebe. Er führte strenge Regeln ein, kreierte eine Spionageabteilung und verbannte aufmüpfige Schüler in die Bibliothek. Das Experiment verselbstständigte sich und geriet außer Kontrolle, also brach Jones am fünften Tag ab. Er zeigte seinen Schülern bei einer Versammlung einen Nazi-Aufmarsch und sagte: "Das ist eure Zukunft! So gelang Hitler sein Aufstieg: durch die Jugend."

Das Interessante ist die Ambivalenz, mit der die einstigen Schüler nun über das Projekt reden. Sie beschreiben den Schrecken, das Trauma - sie sagen aber auch, wie prägend es gewesen sei.

"Es bin dankbar, an diesem Experiment teilgenommen zu haben", sagt ein Schüler, und die Mitschülerin, die damals gegen Jones rebelliert hat, ergänzt: "Ich hätte nicht so viel gelernt, hätte er es nicht derart weit getrieben." Ein dritter sagt: "Es war eine erstaunliche Erfahrung, die mich 50 Jahre später noch immer prägt."

Nur, und das ist eine Schwäche dieses Films: Er bleibt sehr nahe an diesem Sujet, zu nahe an diesen fünf Tagen.

Es wird explizit erklärt, was passiert ist: Wie Jones eine Gemeinschaft aus Individuen kreierte, wie er Disziplin förderte, wie er Ungehorsam bestrafte und sich selbst vom Gefühl der Macht verführen ließ. Wie schüchterne Kinder und Außenseiter innerhalb weniger Tage eine Bestimmung fanden und wie sich kaum jemand dagegen zu wehren traute. "Es ist erstaunlich, wie schnell wir unsere Freiheit aufgeben, weil wir uns für besser halten als andere", sagt Jobs im Gespräch mit der SZ.

Es ist überaus faszinierend, die Version der Schüler zu hören. "Die Bedrohung für uns war nur eine schlechte Note, und ich kenne die Bedrohung für die Leute damals in Nazi-Deutschland", sagt die Rebellin von damals: "Das hat mir gezeigt: Es könnte jederzeit und überall passieren." Ein Mitschüler ergänzt: "Ich höre oft von Leuten: 'Ich hätte niemals mitgemacht, ich wäre nicht so dumm gewesen.' Das sind genau die Leute, die mitmachen würden."

Das ist der Moment, in dem sich der Zuschauer eine Fortsetzung wünscht. Er will wissen: Was genau ist aus diesen Schülern geworden? Inwieweit haben sie die Erfahrungen von damals nutzen können? Vor allem aber: Was haben sie zu sagen zum Aufstieg des Populismus heutzutage? Von faschistischen Strömungen überall auf der Welt und dazu, wie viele Menschen sich davon verführen lassen?

Es hat immer wieder moderne, fiktive Versionen der Geschichte gegeben - das Buch The Wave von Morton Rhue (1981) etwa oder den Film Die Welle von Dennis Gansel (2008). Es wäre nun aber interessant, die Gedanken der Schüler, die das Ganze damals erlebt haben, zu politischen Themen von heute zu hören. Dieses Experiment hat den Teilnehmern ja vor allem gezeigt: Es hilft nicht, Geschichte nachzuerzählen, es braucht eine Lektion - und die kann gerne auch verstörend, schockierend, traumatisierend sein.

The Invisible Line - Die Geschichte der Welle, Crime + Investigation, 20.45 Uhr

© SZ vom 19.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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