"Die Gejagten" in der ARD:Weggesperrte auf Freigang

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In Albanien leben sie abgeschlossen von der Außenwelt, unterliegen dem Gesetz der Blutrache. Der Dokumentarfilmer Marc Wiese hat junge Menschen aus dem Balkanland in einem Bus zu deutschen Schulen begleitet, wo sie ihre tragische Geschichte erzählen. Die hat noch lange kein Happy End gefunden, denn sie müssen zurückkehren.

Moritz Baumstieger

Ein Bus fährt durch Deutschland. Darin sitzen Jugendliche, die vor allem eines im Gepäck haben: Eine Geschichte, ein Schicksal, das sie erzählen wollen, an Schulen und auf Infoveranstaltungen. Christian, Elsa und die anderen können sich normalerweise nicht so frei bewegen, sie sind weggesperrt. Nicht wegen Taten, die sie begangen haben, sondern wegen der Taten ihrer Väter, ihrer Onkel, ihrer Großväter.

Schwester Christina mit albanischen Jugendlichen, die von der Blutrache bedroht sind, auf ihrer Reise nach Deutschland. (Foto: SWR)

Die Jugendlichen kommen aus Albanien, sie unterliegen dem archaischen Gesetz der Blutrache, könnten jederzeit getötet werden. "Und das nur 1800 Kilometer weiter, mitten in Europa", sagt Schwester Christina, eine Ordensfrau, die die Jugendlichen auf ihrer Reise durch Deutschland begleitet.

Der Kampf gegen den Kanun, das alte Gewohnheitsrecht aus den albanischen Bergen, das regelt, wann getötet werden darf und wann getötet werden muss, ist für die aus Donauwörth stammende Nonne zur Lebensaufgabe geworden.

Sie betreibt eine Missionsstation in Nordalbanien, besucht die jungen Menschen, die unverschuldet ein Leben in den immer gleichen eigenen vier Wänden verbringen müssen, weil draußen nur der Tod auf sie wartet. Auch der Dokumentarfilmer Marc Wiese begleitet das Thema seit längerem, vor fünf Jahren machte er erste Aufnahmen, aus denen 2009 der preisgekrönte 90-Minüter Kanun - Blut für die Ehre entstand.

Langer Vertrauensaufbau mit Protagonisten

Diese Tiefe ist nun zugleich Stärke und Schwäche von Die Gejagten - Ferien von der Blutrache. Schwäche deshalb, weil Wiese sich nur sehr kurz bei den Hintergründen des archaischen Rechtssystems und zu Albanien aufhält. Ein Filmer mit frischerem Blick hätte vielleicht genauer erklärt, warum es einst in den Bergen des Balkans entstand, warum es immer noch für so viele Albaner, ob nun Muslime oder Christen, als göttliches Recht gilt.

Wiese versucht, die Protagonisten selbst den Irrsinn erklären zu lassen. Das gelingt, weil er sie schon lange kennt: Bilder aus dem Jahr 2007 zeigen Christian als einen Teenager, der sich nicht mehr an das Leben draußen erinnern kann, weil er seit 13 Jahren eingesperrt ist. Und weil Wiese über die Jahre Vertrauen schaffen konnte, sprechen nicht nur die Männer mit ihm, die im Gefängnis sitzen, weil sie die Blutrache zu verantworten haben, Christians Vater und Onkel. Sondern auch die Familie, die das Blut nehmen soll - und genauso im System des Kanun gefangen ist wie Christian in seiner Wohnung.

Das Roadmovie der Gejagten auf Urlaub endet schließlich im Vatikan. Eine Generalaudienz bei Papst Benedikt ist der Höhepunkt der Reise, anschließend schwören die Jugendlichen symbolisch dem Kanun ab. Christian hat den Entschluss gefasst, sich nach seiner Rückkehr nach Albanien nicht mehr verstecken zu wollen. Ob er diesen Entschluss mit seinem Leben bezahlen wird? Vielleicht wird Marc Wiese davon in ein paar Jahren erzählen. In einem neuen Film.

Die Gejagten , ARD, 23.30 Uhr.

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© SZ vom 01.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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