Deutsches Fernsehen:Verspätung

Der NDR hat eine sehr feine Provinz-Doku sehr gut im Nachtprogramm versteckt. Im Netz hat sie dann noch Karriere gemacht.

Von Katharina Riehl

Das Internet hat bekanntlich seine eigenen Währungen für Erfolg, und 427 000 Video-Aufrufe bei Facebook sind ein ziemlich großer. Am Wochenende hat der NDR einen Ausschnitt aus einer Doku online gestellt, zu sehen sind drei junge Menschen in Boizenburg, Mecklenburg-Vorpommern. Sie sollen erzählen, was in ihrem Heimatort über die Flüchtlinge gesprochen wird. Denn hier, am Bahnhof, kommen diese täglich an - und treffen gleich am Kiosk auf die oft skeptischen Anwohner. Die eine erzählt von Vergewaltigungen, und das blonde Mädchen in der Mitte weiß: "Eine Fünfjährige wurde gegessen. Lebendig. Vom Flüchtling. Stand auf Facebook." In allen erwartbaren Facetten wurde das Video kommentiert - unter anderem auch mit dem Vorwurf, dass hier mal wieder die ostdeutsche Jugend vorgeführt werde.

Tatsächlich ist die Geschichte dieses Clips eine hübsche Geschichte über das Prinzip Vorurteil. Natürlich kann man sich fragen, ob man wirklich ausgerechnet diesen Schnipsel ins Netz stellen musste. Andererseits: Wer die ganze sehr feine Doku Weltbahnhof mit Kiosk in der Mediathek des NDR ansieht, erfährt etwa, dass das dunkelhaarige Mädchen zu Beginn des Films zwar von angeblichen Vergewaltigungen schwadroniert, später aber von ihren besten syrischen Freunden erzählt, und dass sie Arabisch lernt. Der Film zeigt nicht nur Klischees, sondern auch solche Kiosk-Stammgäste, die sich mit Flüchtlingen zum Biertrinken auf den Gehsteig setzen. Die Einzigen, die sich mal wieder Mühe geben, ein paar Vorurteile zu bestätigen, sind die Herrschaften vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Dieser kleine tolle Film lief in der Nacht von Freitag auf Samstag um 0.30 Uhr.

© SZ vom 15.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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