Berlin im Frühjahr '45:Schaut auf diese Stadt

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„Wir lieben uns, mein Freund, und es wird schlimm“: Berlin im Frühling 1945. (Foto: Bundesarchiv/Agentur Scherl/RB)

Volker Heise hat aus Zeitdokumenten eine vielstimmige Collage geschaffen, die von der die Einnahme Berlins vor 75 Jahren erzählt. Dieses "Tagebuch einer Großstadt" ist nichts für empfindliche Gemüter - und absolut sehenswert.

Von Willi Winkler

Das letzte Jahr beginnt mit einer Drohung, sie kommt, wie seit zwölf Jahren schon, aus dem Radio, wenn Hitler verspricht, sich von jetzt an ausschließlich dem Schicksalskampf des deutschen Volkes zu widmen. Im Kino läuft der Film Opfergang von Veit Harlan. Seine Frau Kristina Söderbaum spielt die Hauptrolle und sagt zu Carl Raddatz: "Wir lieben uns, mein Freund, und es wird schlimm."

Und so kommt es.

"Wunderschön", findet das siebzehnjährige Bürolehrmädchen Brigitte Eicke den Film, "und so traurig", aber davon geht die Welt nicht unter, denn sie ist mit ihrem Kurt im Kino gewesen. Vor allem auf ihre Aufzeichnungen stützt sich die dreistündige Collage Berlin 1945, die nach dem Willen des Gestalters Volker Heise kein Film, sondern das Tagebuch einer Großstadt sein will. Da es auch in den 75 Jahren seither noch keiner Stadt gelungen ist, selber Tagebuch zu führen, sind es unter anderem ein französischer Arzt, ein Hitlerjunge, eine untergetauchte Jüdin, ein Fotograf, außerdem Wehrmachtssoldaten, Kriegsreporter, Kriegsgefangene, aus deren Notaten und Erinnerungen dieses kollektive Tagebuch entsteht.

Heise begnügt sich jeweils mit einer knappen Einleitung, sonst gilt für seine das absolute Präsens des Jahres 1945 aus Wochenschaumaterial, Radioübertragungen, Archivaufnahmen und immer wieder den Filmen, in denen Brigitte Eicke Ablenkung sucht. Sie ist ein so mustergültiges deutsches Mädel, dass sie bereits mit siebzehn in der Partei ist, um ihre Soldaten bangt und ihren Führer.

Es ist Krieg. Goebbels verlangt, dass die deutschen Soldaten in den Kampf "wie in einen Gottesdienst" gehen. Die Rote Armee marschiert auf Berlin zu, die Stalinorgeln dröhnen, Kinder und Greise werden an der Panzerfaust ausgebildet. Plakate bieten die Alternative "Sieg oder Bolschewismus". Goebbels dröhnt, Roland Freisler bellt im Volksgerichtshof, die Sirenen heulen, wenn die alliierten Bomber die Berliner in die Luftschutzkeller treiben. Nach der Entwarnung geht im Kino die Vorstellung weiter. Die V 2 nimmt Kurs auf Rotterdam, die Transportliste I/123 vom 27. März hält die Namen für die Deportation nach Theresienstadt fest. In den Straßen häufen sich die Trümmer, beim Familienfest gibt es lecker Bohnenkaffee.

Die Uhr wird auf Moskauer Zeit umgestellt, die Leute säbeln auf der Straße an einem toten Pferd

Bekannte Bilder: Noch einmal der Führergeburtstag am 20. April, als Hitler wie ein Kinderschänder die bereits mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneten 15-jährigen Volksstürmer tätschelt. Im Kalendarium einer unbekannten Krankenschwester, das immer wieder eingeblendet wird, heißt es bald in hellblauer Tinte: "Der Russe ist da". Am Tag, als Hitler sich im Bunker erschießt, am 30. April 1945, erreichen die russischen Soldaten den Reichstag. Auf dem Dach wird die rote Fahne der Sowjetunion gehisst, der Fotograf Jewgeni Chaldej findet die richtige Einstellung mit den rauchenden Trümmern und dem Brandenburger Tor im Hintergrund. Hier wird bei der Chronologie etwas gemogelt, denn das Bild entstand bei besseren Lichtverhältnissen erst zwei Tage später.

Nicht zu sehen ist der Frühling, der die russische Invasion im April 1945 begleitete. Das Material ist fast ausschließlich Schwarzweiß, entsprechend düster ist die Stimmung (Chaldejs Foto vom eroberten Reichstag wurde von der Prawda dunkler nachretuschiert). Der Russe ist da, der Bolschewismus, doch für die Verfolgten, die Untergetauchten, die Oppositionellen brachte er die Befreiung. Dem Russlandheimkehrer Konrad Wolf, mit 18 schon Leutnant in der Roten Armee, fällt die "ohrenbetäubende Stille" am 1. Mai 1945 auf, als die Kämpfe endlich aufhören. Die Stadt hat praktisch aufgehört zu existieren, meldet ein Reporter der BBC und zitiert einen Militär, "but the job had to be done". Die Russen verewigen sich an den Wänden des Reichstags. Freudenfeiern mit einem Gemisch von Spiritus und Fruchtsaft.

Zwei Millionen Berliner, dazu Flüchtlinge, und es gibt fast nichts mehr zu essen. Im Zoo, ein ungeheurer Anblick, liegen die verendeten Tiere: tote Gorillas, ein Elefantenbaby, gefällte Giraffen. Die Journalistin Margret Boveri hat geschildert, wie sie dem Gerücht folgt, ein totes Pferd liege auf der Straße. Hier ist zu sehen, wie Männer und Frauen daran herumsäbeln. "Ich bekam ein Viertel Lunge und ein Stück von der Keule, woran noch das Pferdefell war, und zog blutbespritzt ab."

In der Charité geht das Morphium aus, bei den Ärzten gehen Bitten um Notabtreibungen ein, nachdem Frauen und Mädchen hunderttausendfach vergewaltigt worden sind. Brigitte Eicke kommt davon, keine "Schändung", aber sie fürchtet wegen ihrer Parteimitgliedschaft die Rache der Sieger. Es heißt, die Männer müssten nach Sibirien. Die Uhr wird zwei Stunden vorgestellt, es gilt jetzt Moskauer Zeit. Es wird geplündert, im Kino läuft Propaganda, später Jenny und der Herr im Frack mit Johannes Heesters. Im Taschenkalender steht unter dem 1. September 1945 noch die Bedeutung des Tages für das untergegangene Regime: "1939 Deutscher Gegenangriff in Polen". Dann wurde es schlimm. Volker Heises Collage zeigt das Ende mit allen Schrecken.

Die pädagogisch sicherlich wertvolle Warnung, am Anfang eingeblendet, das Programm sei "nicht geeignet für Kinder, Jugendliche oder empfindsame Zuschauer", bedeutet nichts anderes, als dass man Berlin 1945 unbedingt sehen muss.

Berlin 1945. Tagebuch einer Großstadt , bei Arte in zwei Teilen, Dienstag, 20.15 und 21.45 Uhr; im RBB am 8. Mai, 20.30 Uhr und in den Mediatheken.

© SZ vom 05.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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