Ausstellung:Schmachtfetzen

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Lebensgroße Fotos von Prominenten, in viele Teile zerlegt - der Starschnitt war mehr als 40 Jahre lang Kernelement der "Bravo". Eine Ausstellung in Lüneburg zeigt jetzt alle 118 Bastelbilder.

Von Silke Burmester

Vergangene Woche war die "große Mittelstadt", wie Lüneburg in Niedersachsen sich nennen darf, Thema in der Tagesschau. Ein Neubau der Universität wurde eröffnet, erschaffen von dem Architekten-Star Daniel Libeskind. Libeskind hat knapp vier Kilometer von der schönen Altstadt entfernt ein Haus in die Landschaft gesetzt: ein martialischer Kristall, in matt-metallischem Silber kühl leuchtend, der wirkt, als sei er vom Himmel gefallen. Hereingebrochen in die rote Beschaulichkeit des norddeutschen Backsteins.

Als vor etwa 60 Jahren Bravo - "Die Zeitschrift für Film und Fernsehen" in die Ordnung des wiederaufgebauten Deutschland hereinbrach, glich auch das dem Einschlag eines Meteoriten. Seine Leser jubelten über das Rock und Jugendkultur bringende Heft, das zunächst sehr versöhnlich mit Titelfiguren wie O. W. Fischer und Ruth Leuwerik daherkam, sich bald schon aber "Die Zeitschrift mit dem jungen Herzen" nannte - und die Eltern seiner Leser den Untergang des Abendlandes wittern ließ.

Zumindest den der Anständigkeit. Womit sie zum Glück richtig lagen: Über die sechs Jahrzehnte ihres Bestehens hat die Bravo es verstanden, die Dinge an- und auszusprechen, die in vielen Elternhäusern tabu waren. Aber auch: Sehnsüchte und kommerziell verwertbare Gegenkulturen einzufangen und zum Geschäftsmodell zu machen.

Einen elementaren Teil dieses Sehnsuchtskonzepts zeigt aktuell eine Ausstellung in der "Kulturbäckerei" in Lüneburg, und landet mit dieser Themenwahl einen "Hit", wie es im Bravo-Deutsch vor 30 Jahren geheißen hätte. Noch bis kommenden Sonntag sind die 118 Starschnitte zu sehen, die die Bravo im Laufe der Jahre zum Sammeln und Aufhängen herausgebracht hat. Wie die Bravo behauptet, "lebensgroße" Fotos oder gemalte Portraits von Musik- und Filmstars, in viele Teile zerlegt, die Woche um Woche, manche über Monate, dem Blatt beilagen, auf dass am Ende James Dean in der Pose des Gekreuzigten aus dem Film Giganten die Wand des Teenie-Zimmers schmückt. Oder 40 Jahre später Britney Spears ihre amerikanische Kaugummi-Unschuld verströmt.

1971 steckte ein Fotograf Mick Jagger für das Bilderpuzzle in ein albernes, buntes Teenie-Outfit

Der erste Starschnitt zeigte 1959 Brigitte Bardot, es folgten Elvis, Rex Gildo und Juliane Werding, später Leif Garrett, die Teens, David Hasselhoff und Eminem. Die Ausstellung in Lüneburg ist ein Ritt durch die popkulturelle Stargeschichte und die Verschiebung von klanglichen - und optischen - Geschmacksgrenzen. Und sie erzählt darüber hinaus, wie eine Zeitschrift, die über 25 Jahre eine Auflage von mehr als einer Millionen Exemplaren hatte, es schaffte, nicht nur Jugendkultur abzubilden, sondern auch immer wieder die jeweils nachwachsende Leser-Generation abzufangen und in den Bravo-Kosmos hineinzuziehen. Im Zweifelsfall, indem der Fotograf im Jahr 1971 den damals 28-jährigen Mick Jagger für das Bilderpuzzle den schwarzen Anzug ausziehen ließ und ihn in ein albernes, buntes Teenie-Outfit im Look der "Palomino"-Linie von C&A steckte.

Zunächst war es gar nicht ernst gemeint, als Initiator Carsten Jung, Jahrgang 1959, seinen Freunden erzählte, er habe seine alten Bravo-Starschnitte auf dem Dachboden entdeckt. Die Freunde meinten, sie hätten auch noch welche. Man könne doch eine Ausstellung machen.

Aus der Spontanäußerung ist eine höchst erfolgreiche Schau entstanden. Schätzungsweise 5000 Besucher sind in drei Wochen gekommen. Genau weiß man das nicht, der Eintritt ist frei, die Absicht, in Lüneburg über Strichlisten den Überblick zu bewahren, ist vor allem eine Absicht.

Über zwei Etagen hängen die Helden der jeweiligen kulturellen Moden an den Wänden, und es ist der einzelne Besucher, der unwillkürlich dafür sorgt, dass sich beim Schauen Momente aus seinem verflossenen Lebensstrom herausheben und wieder greifbar werden. Etwa ein Mann Mitte fünfzig, der vor dem Beatles-Starschnitt stehend seinen drei Freunden erzählt, wie bedeutend und anstrengend es für ihn war, über die vielen Wochen keinen Teil zu versäumen.

Oder wenn die Erinnerung daran zurückkommt, wie sich im Fan-Wahn um die Bay City Rollers das Gefälle mit der besten Freundin offenbarte: Sie, die Überlegene, durfte natürlich den tollen, smarten Sänger Leslie anschmachten, während man selbst, die ewige Zweite, den Gitarristen Woody nehmen musste, dem auf dem Bravo-Starschnitt die Zunge wieder so quer im halbgeöffneten Mund hängt, dass nicht klar ist, ob er alles unter Kontrolle hat.

Suzi Quatro, die der Initiator auf dem Dachboden aufbewahrt hatte, fehlten das Knie und die Brüste

Eine Jukebox hat die Hits der Starschnitt-Helden parat, und die Besucher können drücken, was ihnen damals die Tränen des Schmachtens in die Augen trieb oder den Griff zur Haarbürste als Mikrofonersatz auslöste.

Ob Abba, Village People oder Bernd Clüvers "Der Junge mit der Mundharmonika" - jeder, der auch nur für ein paar Wochen Teil der Bravo-Welt war, bekommt die Gelegenheit, noch einmal darin einzutauchen. So verbindet sich das Damals mit dem Jetzt. Es wird neben den Göttern von einst an den Wänden posiert - die da oben an der Wand in Badehose oder schillerndstem Glamrockoutfit, die Besucher in einer für Niedersachsen adäquaten Allwetterbekleidung.

Die Begegnung mit dem gestrigen Ich scheint gut zu tun. Die Stimmung in den Räumen ist von großer Leichtigkeit und Freude geprägt. Auch ist das Gästebuch voll mit Dankesbekundungen für die "tolle Zeitreise". Manchen Besuchern kommen auch die Eltern wieder näher: "Phantastisch", schreibt jemand, "ich höre meine Mutter schimpfen über die 'unnötige Geldausgabe' für die Langhaarigen."

Ein gutes Jahr haben die Vorbereitungen in Anspruch genommen, die Kuratorin Marie-Lotta Karcher hat viel Zeit investieren müssen, die Starschnitte, die als Faksimile zu sehen sind, aber auch ausgewählte Bravo-Cover zusammen zu sammeln. Die Ausgabe mit Sean Connery auf dem Titel von 1965 etwa musste eigens aus den USA eingeflogen werden. Allein die Aufgabe, jeweils alle Körperteile zusammen zu bekommen, war eine Herausforderung. So war auch etwa Suzi Quatro, die Carsten Jung auf dem Dachboden aufbewahrt hatte, unvollständig. Ihr fehlten das Knie und die Brüste.

Der letzte klassische Bravo-Starschnitt erschien 2004. Das Prinzip, wochenlang auf etwas warten zu müssen, schien dem damaligen Chefredakteur Gerald Büchelmaier nicht mehr zeitgemäß. Heute, 13 Jahre später, wird ein neuer Meteoriteneinschlag für die Popkultur verkündet: Virtual Reality. Sie wird es ermöglichen, das Gefühl zu haben, Stars hautnah zu begegnen. Etwa beim Konzert neben ihnen auf der Bühne zu stehen. Ruck, zuck. Von einer Sekunde auf die andere. Mit Anfassen. Sehnsucht war gestern.

Der Bravo-Starschnitt, Ausstellung in der Kulturbäckerei Lüneburg, bis 19. März, www.kulturbaeckerei-lueneburg.de.

© SZ vom 15.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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