Zeitgeschichte:Harte Landung

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Er ist noch immer fasziniert von Flugzeugen: Frank Tornow heute. (Foto: privat)

Frank Tornow zählte zu den Planespottern in der DDR, er beabachtete leidenschaftlich gern den Himmel. Bis die Stasi fand: Wer fremde Flugzeuge fotografiert, muss ein Spion sein. Treffen mit einem gebrochenen Mann.

Von Harald Stutte

Frank Tornow sitzt im Lokal "Biertempel 2" nahe seiner Wohnung im Berliner Stadtteil Tempelhof bei einem Glas Riesling. Seit 2005 ist er Rentner, arbeitsunfähig wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Manchmal wirkt der 59-Jährige wie ein gebrochener Mann, der einmal eine große Zukunft vor sich hatte. Wenn er aber von seiner Leidenschaft spricht, dann leuchten seine Augen. Buchstaben-Zahlen-Kombinationen, die dem Laien wie Zauberformeln erscheinen, sprudeln aus ihm: die TU-144, die An-24. Es geht um Typenbezeichnungen von Flugzeugen.

Frank Tornow schießt seit seiner Kindheit mit der Kamera Flugzeuge ab. "Planespotting" nennt sich das ungewöhnliche Hobby dieser Jäger und Sammler, die mit ihren Kameras die Flughäfen umschwirren wie Motten das Licht. Was voraussetzt, dass man sich mit Kennungen und Baureihen auskennt, um zu reagieren, wenn eine Maschine auftaucht, die in der Sammlung noch fehlt. Tornow ist ein wandelndes Flugzeuglexikon.

1965, im Alter von sechs Jahren, stiefelte er erstmals mit einer Kamera der Ost-Marke "Beiretta" los, um auf Rampe 1 des zuvor eröffneten DDR-Flughafens Schönefeld sein erstes Foto zu schießen - von einer IL-14M der jugoslawischen Luftwaffe, wie er sich erinnert. Tornow fraß sich durch Fachzeitschriften. Der junge Ostberliner stieg bald auf eine bessere Kamera vom Typ "Praktica LTL" um, beschaffte sich ein 200er-Objektiv, entwickelte selbst Fotos. Andere 14-Jährige wollten in den Ferien ins Kinderferienlager, Tornow wünschte sich von seiner Mutter, auf den Prager Flughafen zu fahren. Er hatte den Flugplan studiert und wusste, dass montags eine Boeing 707 landen würde. Mutter und Sohn "urlaubten" auf der Aussichtsterrasse, schliefen zwei Nächte auf harten Bänken im Wartesaal, aßen mitgebrachte Stullen mit Dosenleberwurst.

Tornow suchte auch Kontakt zu Spottern jenseits des Eisernen Vorhangs. "Es gab da eine Ost-West-Arbeitsteilung", sagt er. "Wir waren im Osten aktiv, lichteten die russischen Baureihen ab, bekamen im Tausch von Spottern aus dem Westen Bilder von dort." Tornow bestand sein Abitur in Englisch mit der Note eins. Das verdankte er seinen globalen Briefkontakten sowie dem ständigen Hören der britischen Militärsender BFBS und BFN.

Doch die Spotter-Familie, das weiß er heute, war durchsetzt mit inoffiziellen Mitarbeitern (IM) der Stasi. Vom Misstrauen gegen den fleißigen Briefeschreiber mit den internationalen Kontakten spürte Frank Tornow zunächst nichts, schlug er doch den vom System gewünschten Weg ein. Nach dem Abitur 1978 verpflichtete er sich zu einem freiwilligen Dienst von drei Jahren als Unteroffizier bei der Luftwaffe der Nationalen Volksarmee (NVA). Es war der Preis, um danach einen der begehrten Studienplätze an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden zu ergattern. Die Zeit beim Militär empfand er nicht als quälend, schließlich versetzte man ihn nach der Grundausbildung zum Fliegeringenieurdienst für Hubschrauber, später zum Hubschraubergeschwader 34 nach Briest. Das war seine Welt. Er war so gut, dass er beim Ostblock-Großmanöver "Waffenbrüderschaft 80" in ein multinationales Expertenteam berufen wurde.

Bis man ihn vom Himmel holte, im Juni 1981, kurz vor Ende seiner Armeezeit. In einem der seltenen Urlaube steuerte er mal wieder Prag an. Die alte Leidenschaft. Als Soldat hatte er sogar eine Reisegenehmigung für das sozialistische Ausland eingeholt, ausgestellt von der für Militärabwehr zuständigen Hauptabteilung I der Staatssicherheit. Er fotografierte eine IL-76M in den Farben der libyschen Airline LAA mit Heck-Kanonenstand, ein vermeintlicher Glücksgriff. Schon beim Restaurantbesuch fiel ihm auf, dass der Kellner in Begleitung eines Mannes auf ihn zeigte. Tornow wischte kurz auftretende Zweifel beiseite, "was habe ich schon zu befürchten?" Er gönnte sich einen Rückflug mit der tschechischen CSA nach Schönefeld. Und wurde bei Ankunft von Uniformierten gebeten, zur "Klärung eines Sachverhaltes" mitzukommen. Es ging Richtung Mittenwalde, in eine Villa im Dorf Kallinchen. Die Stasi hielt ihn für einen Spion, der Geheimnisse dem Feind preisgab. Tornow wusste, dass einer seiner Westberliner Spotter-Freunde gelegentlich über Flugzeuge im Tagesspiegel schrieb - doch zu ihm hatte er schon lange keinen Kontakt mehr. "Vielleicht war ich eine Art Bauernopfer, um die gesamte Spotterszene in Ost und West einzuschüchtern", mutmaßt er heute. Denn diese Szene pflegte einen für die Stasi bedrohlich wirkenden Ost-West-Austausch.

Oder Tornow hatte einfach nur Pech, weil die DDR-Staatsschützer in dieser Zeit geradezu panisch agierten. Etwa zum Zeitpunkt von Tornows Verhaftung war der in der Hauptverwaltung Aufklärung tätige Stasi-Offizier Werner Teske hingerichtet worden - angeblich wollte er in den Westen fliehen. 1979 war Werner Stiller, ein Stasi-Oberleutnant der Hauptverwaltung Aufklärung, übergelaufen.

Geschätzt 100 000 Dias aus fünfzig Jahren Planespotting, das ist sein Lebenswerk

Tornow kam in die zentrale U-Haft der Stasi in der Ostberliner Magdalenenstraße. Der Vorwurf: Er solle als Soldat "geheim zu haltende Angaben über militärische Flugzeuge und Hubschrauber an Westberliner Personen übermittelt" haben. Ein Militärgericht verurteilte den 22-Jährigen zu fünfeinhalb Jahren Haft. Obwohl die Untersuchung ergeben hatte, dass "eine direkte nachrichtendienstliche Steuerung nicht erarbeitet werden konnte", wie es in den Akten heißt. Ebenso, dass Tornow "nicht aus einer feindlichen Grundeinstellung gegen die DDR handelte", sondern sich bezüglich seines Hobbys "einen Namen zu machen versuchte". Als einziger Politischer unter Kriminellen litt er unter Schikanen in der Haftanstalt Rummelsburg, später Brandenburg. "Dass T. regelrecht kaputt geht", registrierte laut Akteneintrag sogar der für die Anstalt zuständige Stasi-Offizier.

Frank Tornow dämmerte, dass es für ihn mit dieser Vorstrafe in der DDR keine Zukunft gab. Er wollte in den Westen. Seit den Sechzigerjahren gab es geheime Verhandlungen zwischen West und Ost über den "Freikauf" politischer Häftlinge nach Verbüßung eines Teiles ihrer Strafe. Für Tornow ein schwere Entscheidung, vor allem mit Blick auf seine Familie - der kranke Vater saß im Rollstuhl, bei seiner Mutter wurde Krebs diagnostiziert.

Die Stasi setzte Tornow massiv unter Druck, um ihn für eine Spitzeltätigkeit zu gewinnen. Er willigte ein, lieferte aber nicht die erhofften Resultate, sodass man ihn aufgab - und ihn fast die gesamte Haftzeit absitzen ließ. Im Oktober 1984 starb sein Vater, man stellte Tornow eine Teilnahme am Begräbnis in Aussicht - falls er den Ausreiseantrag zurückzöge. Tornow lehnte ab. Längst interessierten sich Menschenrechtsorganisationen für den Fall. Nach fünf Jahren und drei Monaten öffneten sich schließlich die Gefängnistore: Er wurde in die Bundesrepublik entlassen. Jetzt waren es westliche Geheimdienste, die sich für ihn interessierten.

Doch der Albtraum ging weiter, die Stasi durchsetzte auch im Westen seinen Freundeskreis, brach in die Wohnung ein. Er sah seine Mutter wieder, die als Invalidenrentnerin West-Berlin besuchen durfte - bevor auch sie kurze Zeit später starb. Das nach 1990 ermöglichte Studium seiner Stasi-Akten offenbarte Tornow die ganze Dimension der Verfolgung. Nach Problemen mit dem Arbeitgeber erlitt er 2001 Nervenzusammenbrüche, landete in der Psychiatrie, man erklärte ihn für schwerbehindert. Hatte die Stasi ihn besiegt?

Frank Tornow hat keine Familie mehr. Er wohnt in einem Berliner Stadtbezirk, wo die Straßen Namen einstiger "Helden der Lüfte" tragen: Oswald Boelcke, Manfred von Richthofen, Fritz Rumey. Sein Lebenswerk, das ist sein Archiv von geschätzten 100 000 Dias aus 50 Jahren Planespotting. Und seine Jagd geht weiter. Wirklich frei fühlt er sich nur, wenn er mit der Kamera auf die Pirsch geht. Wie kürzlich im serbischen Nis. Er spazierte auf eine Luftwaffenbasis, bis ihn ein Militärpolizist festhielt, "Geht nicht", sagte. 30 Minuten lang wurde dieser seltsame Deutsche von Militärpolizei und Geheimdienst festgehalten und durchsucht.

War sie wieder da, die alte Angst? Tornow lacht. Einen Spotter, der fünfeinhalb Jahre im DDR-Knast saß, holt so schnell nichts vom Himmel. Am Ende überzeugte er die Serben, dass er ein verrücktes Hobby habe und quer durch Europa gefahren sei, um sie abzuschießen: eine An-2 mit serbischem Hoheitszeichen, der letzte Doppeldecker mit Frontpropeller aus dem Kosovo-Krieg.

© SZ vom 06.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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