Ukrainisches Tagebuch:"Nachts ist es wie früher"

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Bis vergangene Woche hat Albina (links) mit ihrer Familie noch in einem kleinen Ort in der Ostukraine ausgeharrt. Dann haben sie sich doch entschlossen zu fliehen. Sie wohnen jetzt im sächsischen Bautzen. (Foto: privat)

Was bedeutet Krieg für die Menschen im Alltag? Albina ist 14 Jahre alt und kommt aus einem kleinen Ort in der Ostukraine. Mittlerweile musste sie mit ihrer Mutter und Oma fliehen. Auch in Woche 6 seit dem russischen Überfall schreibt sie Tagebuch.

Übersetzung: Katja Garmasch

1. April, Tag 37

In der Nacht sind wir nicht schlafen gegangen, sondern schlafen gefallen. Die Reise war hart, allein die Zugfahrt nach Lwiw hat 28 Stunden gedauert. Aber es hat sich gelohnt: Hier in Deutschland sind wir in Sicherheit. Gestern hatte meine Mama Geburtstag. Unser gemeinsames Geschenk ist das Leben! Thomas, unser Gastgeber hier, ist ein wunderbarer Mensch mit einer freundlichen Familie. Ich fühle mich wohl.

Die erste Nacht in Deutschland war trotzdem schrecklich. Mama hat mir gesagt, dass ich im Schlaf laut geweint habe. Mitten in der Nacht bin ich panisch und nass von den Tränen aufgewacht. Ich träumte, dass ich wieder zuhause bin, zusammen mit Mama, Papa, Bruder und Oma - wir reden und lachen und ich erinnere mich sogar an das Schnurren meiner Katzen. Dann plötzlich das Pfeifen einer Rakete. Die Sirene ist angegangen, aber ich konnte mich nicht bewegen, weil meine Hände und Füße zusammengebunden sind. Ich kann nichts machen, noch nicht mal weinen.

2. April, Tag 38

All die, denen ich nicht helfen kann - verzeiht mir bitte! Meine Hände sind gefesselt, wie in diesem Traum. Menschen können sich in Dingen irren. Aber die Tatsache, dass mein Herz nur in der Ukraine richtig schlägt und nirgendwo sonst, ist kein Fehler.

Heute waren wir bei der Registrierung. Ich habe mir schon gedacht, dass dort viele Flüchtlinge sein würden. Aber ich war trotzdem sehr überrascht, als ich so viele Ukrainerinnen und Ukrainer in einem Raum sah. Mein Herz schlug schneller. In der Warteschlange lernte ich eine Familie aus dem Donetzker Gebiet kennen - sie wohnten nicht weit von uns. Mann, Frau und sechs Kinder. Wie benommen sie dastanden, geknickt, bedrückt. Auf der Flucht habe ich so viele schlimme Geschichten gehört. Vor allem aus Mariupol: Unschuldige Kinder und Erwachsene lebten wochenlang im Keller, haben Tauben auf offenem Feuer gebraten und Wasser aus der Heizung getrunken. Womit haben wir das alles verdient? Was für ein Leben werden diese Kinder wohl haben? Was haben wir gemacht, dass wir so leiden müssen?

3. April, Tag 39

Ich schlafe viel zu viel. Ich glaube ich will einfach den Krieg durchschlafen, um schneller zurück zu kommen. Nicht weil es hier schlecht ist. Sondern weil da alles meins ist. Die Menschen um mich herum versuchen mich abzulenken. Manchmal schaffen sie es, aber in der Nacht ist es wie früher: Albträume und Angst.

4. April, Tag 40

Krieg ist immer ein schwieriges Thema. Besonders, wenn dein Gegenüber nicht aus der Ukraine kommt. Ich bin froh, dass die Menschen hier keinen Krieg erlebt haben. Ich will, dass die Menschen die Wahrheit kennen und nicht schweigen. Die Menschen haben früher den Mund gehalten, deswegen wird ihnen jetzt der Mund zugehalten.

5. April, Tag 41

Liebes Tagebuch: Es ist erst halb acht morgens und ich weine schon und schreibe dir. Wem sonst kann ich das erzählen? Ich habe jetzt niemanden mit dem ich darüber sprechen könnte. Vor einer viertel Stunde hat meine Mutter unsere engsten Freunde zu Hause angerufen. Sie sagen, dass sie Flugzeuge am Himmel sehen und sehr starke Explosionen hören. Es geht also los...

Heute sind wir zum ersten Mal spazieren gegangen. Bautzen ist wunderschön, aber ich habe überall die Ukraine gesehen: Hier ist die Andriew Straße aus Kiew, die alten Schlösser erinnern mich an Odessa und der Rathausplatz sieht genauso aus wie in Lwiw. Und dann ukrainische Fahne über dem Rathaus - das lässt mein Herz höherschlagen! Danke, Deutschland!

6. April, Tag 42

Vielleicht sollte ich das alles vergessen, damit es mir besser geht? Darf ich das? Muss ich das? Alles was ich da hatte? Alisa und Sophia meine Katzen? Spaziergänge mit meinem Bruder, Urlaub am Schwarzen Meer, das Theater in Mariupol, mein Lieblings-Festival dort? Das Konzert meiner Lieblingsband, in dessen Sänger ich immer noch verliebt bin... Was wird dann aus mir? Ich will nicht vergessen. Ich werde mich erinnern. Und träumen. Über die Zukunft, nur so kann sie wahr werden.

© SZ vom 09.04.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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Übersetzung: Katja Garmasch

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