Tricks der heißesten Jahreszeit:Dem Sommer ist alles wurscht

Lesezeit: 7 min

Ein eitler Sack mit Hang zum Grausamen und einer Liebe zum Kitsch: Das ist der Sommer. Anmerkungen zu einer unberechenbaren Jahreszeit.

Christian Zaschke

Was für ein Angeber

Der Sommer kommt überraschend um die Ecke. Frühlingsregen mischt sich mit Sommerduft. (Foto: Foto: dpa)

Im Grunde zeigt der Sommer seine wahre Natur an drei Tagen; diese drei Tage sagen alles über ihn. Der erste Tag ist der verpasste Tag. Er ist beinahe vorüber, der Abend breitet sich aus, und plötzlich ist da dieses Gefühl: Das war der Anfang des Sommers.

Die Jacke, erst seit kürzerem die Frühlingsjacke, ist zu dick. Hätte man früher merken können, hat man aber nicht. Die Stadt dampft ein wenig, auf den Feldern draußen arbeitet und rumort es, der Frühlingsregen geht nun auf in der Sommerluft.

Gestern war davon noch nichts zu spüren, heute ist alles anders, es ist überdeutlich, übersatt von Farbe, weil der Sommer nicht anders kann, er ist ein Angeber, und doch hat man den ganzen Tag nichts bemerkt, was seltsam ist: So als verstehe man erst nach 20 Minuten im Kino, dass gerade ein Arnold-Schwarzenegger-Film läuft, alles zu viel, zu viele Muskeln, zu viele Waffen, zu viel Geräusch.

Es ist einer der besten Tricks des Sommers, dass er es schafft, sich mit Getöse anzuschleichen. Und er hat noch andere gute Tricks drauf.

Auf der nächsten Seite: Fünf Männer, vier Frauen - ein typischer Sommertrick...

Im Sommer gibt es keine Märchen

Der Sommer zieht uns glatt die Schuhe aus. Nur der fünfte Mann lässt sie lieber an. (Foto: Foto: Getty)

Ein typischer Sommer-Trick ist der aus Calella de Palafrugell in Spanien, irgendwo an der Südküste, sagen wir: Anfang der neunziger Jahre. Neun Leute unterwegs mit Autos und Motorrädern, vier Frauen, fünf Männer. Der Sommer schickt nicht vier und vier; so etwas macht der Frühling, weil er keinen Mumm hat, weil er glaubt, er müsse düngen und alles in Farbe verwandeln, hellblau wenn's geht, hellgelb, alles schön freundlich.

Jetzt aber der Sommer: schickt vier und fünf, dann lehnt er sich zurück und schaut was passiert. Der Sommer ist oft bräsig, dann ist ihm alles wurscht, und manchmal ist er brünftig, dann will er, dass sich was tut. Eben noch Männergespräch auf dem Zeltplatz, kaltes Bier, spanisches, trotzdem lecker.

Die Aufstellung von 1974 gegen Holland? Egal. Die Aufstellung von 1990 gegen Argentinien? Bodo, Jürgen, Auge, Thomas, Guido, Andi, Icke, Lothar, Litti, Völler, Klinsi. Oh, Mann, wie das den Sommer langweilt. Der Sommer kann Fußball nicht ausstehen; wie er es hasst, dass sie ihm mittlerweile alle zwei Jahre ein großes Fußballturnier reindrücken.

Sommermärchen? Im Sommer gibt es keine Märchen. Vier Frauen und fünf Männer in Calella de Palafrugell, das ist der Sommer, so mag er es! Eben also noch Fußball, nun verschiebt der Sommer die Konstellation der vier und der fünf. Er bringt drei und drei zusammen, die anderen lässt er zappeln. Herrlich. Eine Woche geht das so. Dann, eines Morgens, ganz früh, es ist kurz vor sechs. Vor Zelt eins: ihre Schuhe, seine Schuhe. Vor Zelt zwei: ihre Schuhe, seine Schuhe. Vor Zelt drei: ihre Schuhe, seine Schuhe. Vor Zelt vier: ihre Schuhe, seine Schuhe. Ein fünftes Zelt gibt es nicht, nur einen fünften Mann.

Der ist übriggeblieben, und der Sommer tut frühmorgens noch so, als wäre er der Frühling, alles hellblau und hellgelb, wie schön. Der Schriftsteller Andrzej Stasiuk kennt nicht diesen Morgen in Calella de Palafrugell, aber er kennt den Sommer, und er weiß, wozu der morgens fähig ist. Er schreibt: "So mag die Welt ausgesehen haben, kurz bevor sie in Bewegung geriet: alles war bereit, die Dinge verharrten an der Schwelle ihrer Bestimmung wie Menschen, die starr sind vor Angst."

Ihre Schuhe, seine Schuhe, und der fünfte Mann hat seine Schuhe gar nicht ausgezogen.

Lesen Sie weiter: Der Sommer hat alles und jeden im Griff.

Ein eitler Sack

Eines Tages wird es unwahrscheinlich heiß; das ist der zweite große Tag des Sommers. Im Privatradio fragt Nachrichten-Moderatorin Kathrin die Wetterfee Annette, wie der Tag ist, und Annette sagt nicht: "Schau halt aus dem Fenster, du blöde gutgelaunte Radiokuh", sondern sie stöhnt erst einmal "Puh" ins Mikrophon, kein laszives Puh, sondern ein Radio-Puh.

"Ist das heiß!", ächzt sie und flötet grundlos fröhlich hinterher: "Ganz Europa stöhnt unter der Hitze, Kathrin!" (Wenn man genau hinhört, dann hört man, wie es Annette nervt, dass Kathrin sich immer so aufplustert, weil sie die Nachrichten spricht; die Nachrichten im Privatradio, herrje.)

Alles geht sehr, sehr langsam vonstatten an diesem Tag, wer kann, der liegt am Wasser und wird allmählich rammdösig. Wer arbeiten muss, tut so, als ob er arbeite und wünscht sich ein Schweißband, wie es Tennisspieler tragen, um den Schweiß aus den Augenbrauen zu wischen. So ein Schweißband, wie es Ivan Lendl früher trug, der aussah, als käme er aus einer sommerlosen Gegend und doch Schweißbänder trug, die beinahe den kompletten Unterarm umfassten. Manche sitzen im Café im Schatten und tun so, als ob sie den Sommer ignorieren könnten, sie halten sich für schlauer als der Sommer, aber das sind sie nicht.

An seinem zweiten großen Tag hat der Sommer alles und jeden im Griff, und auch die im Café können über nichts anderes reden als über den Sommer, dem das gefällt, weil er ein unwahrscheinlich eitler Sack ist. Und das mit Freude, er steht dazu. Dieser zweite Tag, er kommt sicher, aber immer plötzlich und unerwartet.

Die Luft steht an diesem Tag, sie ist so angefüllt mit Hitze, dass es auch abends nicht kälter wird. Paare sitzen am Abend dieses Tages mit Freunden um einen Grill, auf dem Fleisch brät und ein bisschen Gemüse, Zucchini, Artischocken, und sie denken an Sex; aber es ist wirklich unwahrscheinlich heiß.

Die ungebundenen Frauen grillen auch, aber nur zum Schein, sie versuchen, die ungebundenen Männer weg vom Grill und ins Bett zu bekommen. Meistens gelingt es, aber nur an diesem einen, dem zweiten großen Tag des Sommers.

Weiter geht es mit dem "Spukschloss im Spessart"...

Er steht auf Lilo Pulver ...

Einen seiner besten Tricks zeigte der Sommer, als er dem ZDF vor vielen Jahren - es mögen fast 30 sein - die Idee in den Kopf warf, man könne samstags die Zuschauer über den Sommerfilm abstimmen lassen.

Drei Filme standen jeden Samstag zur Auswahl, es wurde per Telefon gewählt, man musste eine sehr lange Nummer eingeben und dann sehr genau darauf achten, dass man die richtige Endziffer eingab - Endziffer war damals ein Sommerwort. Und egal welche Endziffer man wählte, am Ende zeigte das ZDF immer "Das Spukschloss im Spessart".

Man konnte hören, wie der Sommer - der im Übrigen einen etwas infantilen Humor hat, und das mit Freude, er steht dazu - wie also der Sommer jeden Samstag um 20.15 Uhr sehr laut lachte, wenn schon wieder Lilo Pulver auf dem Bildschirm erschien.

Lesen Sie, wie die großen Menschen die Kinder verscheuchen.

... aber Kinder sind ihm egal

Der Sommer ist in jedem Jahr gleich, es kommt der erste Tag recht früh, es kommt der zweite Tag irgendwo in der Mitte, es kommt der dritte Tag. Einmal nur alle paar tausend Jahre ist es anders.

Nicht, weil irgendein Planet im dritten Haus steht oder so einem Astro-Quatsch. Es ist, weil es dem Sommer so gefällt, oder besser: Weil er grad Bock drauf hat. 2003 war so ein Jahr. Seinem ersten Tag Ende April ließ der Sommer seinen zweiten Tag bereits Anfang Mai folgen (im meteorologischen Frühling, aber das war ihm so was von egal), und dieser zweite Tag: Er dauerte einige Wochen.

Es heißt immer, der Sommer sei die Zeit der Kinder, aber das ist Blödsinn. Dem Sommer sind Kinder gleichgültig, er hat nichts gegen sie, aber er hat auch nichts für sie. In diesem Jahr, 2003, hat er sich eine kleine Gemeinheit erlaubt.

Es geschah im Münchner Biergarten "Hofbräukeller". Wegen der Hitze (und weil es Bier zum halben Preis gab; die Biergarten-Leute hatten einen groben Fehler begangen: Sie hatten nicht mit dem Sommer gerechnet) waren alle Bänke besetzt. Überall Menschen mit riesigen Bierkrügen in der Hand und nirgends mehr Platz zum Sitzen.

Bis - nun ja, bis auf die kleinen Miniatur-Biertische hinten am Spielplatz. Da saßen die Kinder. Erst waren es nur zwei, drei Mutige, die sich zu den Kindern auf die wirklich sehr kleinen Bänke setzten, aber bald schon kapierten es alle und ließen sich anstiften vom Sommer: Sie verscheuchten die Kinder und nahmen Platz, es war ein wunderbares Sommerbild: glückliche, große Menschen mit riesigen Bierkrügen auf sehr kleinen Bänken an sehr kleinen Tischen. So, wie sie saßen, konnten sie sich mit den Knien an den Ohren kratzen.

Und auf der letzten Seite: Warum dem Sommer am dritten Tag all seine Sünden verziehen werden...

Der Vollendete

Schließlich, der dritte große Tag des Sommers. Der erste kommt unbemerkt, der zweite überraschend, der dritte kommt allmählich, langsam, so wie die Küste am Ende der Reise sich dem Boot nähert, das den Ozean überquert hat.

Der dritte Tag ist lange in Sicht, und doch dauert es dann eine große Weile, bis er tatsächlich da ist. Das Licht verändert sich, es hängt tiefer und ist voller, der Sommer leistet sich ein bisschen Kitsch, das mag er, ach was: Er liebt Kitsch. Und dann ist er endlich da, der dritte Tag, den niemand so schön beschrieben hat wie Kurt Tucholsky.

Für ihn ist der dritte Tag eine eigene Jahreszeit, die fünfte. Er schreibt: "Wenn der Sommer vorbei ist und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt, wie ein ganz altes Pferd, das sich im Stall hinlegt, so müde ist es - wenn der späte Nachsommer im Verklingen ist und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat - : dann ist die fünfte Jahreszeit. Nun ruht es. Die Natur hält den Atem an."

An seinem dritten großen Tag ist der Sommer zu Ende, es ist sein wichtigster Tag. Er ist ruhig, kaum zu glauben, dass er das kann, ein Glanz liegt auf allem, das schönste Licht. Der Sommer, dieser eitle, angeberische Sack, vollbringt an seinem dritten Tag ein Kunstwerk, er führt ein Schauspiel auf, für das es im menschlichen Leben genau zwei Entsprechungen gibt: Wenn aus Sex Liebe wird. Und dann: Wenn aus Leben Tod wird. Wenn es also um Vollendung geht.

Weil der Sommer das an seinem Ende kann, darf er vorher so ein Angeber sein, so ein eitler Sack; sogar seine Freude am Grausamen und sein infantiler Humor seien ihm verziehen. Er ist reines Gefühl, und wer sich davon nicht ergreifen lässt, der ist zeit seines Lebens im Frühling steckengeblieben.

© SZ vom 21.06.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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