Tango in Buenos Aires:Tanzen, als gäbe es kein Morgen

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Der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens: In Buenos Aires feiern die unterschiedlichsten Menschen allnächtlich den Tango.

Peter Burghardt

Ein gewöhnlicher Tag im Spätwinter von Buenos Aires ist schon wieder zwei Stunden alt, als die Party so richtig in Fahrt kommt. Bislang bewegten sich die Gäste im Salón Canning zu Tango vom Band, das Orchester ließ sich Zeit.

Tango - Pure Lebenslust und Erotik. (Foto: Foto: AFP)

Die Zeit spielt bei dieser Disziplin und in diesem Raum von der Größe einer kleinen Turnhalle sowieso keine Rolle. Nun, ab zwei Uhr morgens, bringt das Septett Color Tango das Publikum in Schwung.

Sechs Männer in dunklen Anzügen und eine rothaarige Pianistin starten mit Astor Piazzollas "Primavera Porteña", Frühling der Hafenstadt, als wollten sie draußen vor der Flügeltür die hartnäckige Kühle und Grippewelle vertreiben.

Die Bandoneone auf den Knien ihrer Bediener klagen, wie es nur diese Ziehharmonikas können; Geigen und Kontrabass jammern. Dann erhebt der Sänger dramatisch die Stimme, und die Tanzfläche ist voll.

Ein intensiver Blick genügt

An die 60 Paare schieben sich mitten unter der Woche und mitten in der Nacht über das helle Parkett, als gäbe es kein Morgen. Die Teilnehmer sind zwischen Mitte zwanzig und Anfang achtzig, schön, unauffällig, schlank, füllig. Sie tragen kurze Röcke oder lange Abendkleider, Jeans oder Zweireiher, Zopf oder Glatze, alles ist erlaubt.

Ein klappriger Senior mit weißem Schnurrbart und Krawatte navigiert seine kaum jüngere Begleiterin mit ihren Netzstrümpfen, die purpurfarbenen Ohrringe passend zu den Schuhen. Die zwei üben ihre Schritte vermutlich seit den fernen Tagen von Juan Domingo und Evita Perón.

Im tiefen Teppich außen herum sitzen ungefähr weitere 150 Besucher an Tischen mit rotglänzenden Deckchen, trinken, schauen, warten, suchen.

Er fordert sie auf, das gehört zu den Regeln. Manchmal genügt ein intensiver Blick, um bald Wange an Wange mit einem Fremden über das enge Quadrat zu gleiten. Aber dies ist kein Ball der einsamen Herzen, sondern ein gesellschaftliches Ereignis mit Titel Milonga.

So heißen diese Wallfahrten zu Ehren des Tango. Es sind ernste, professionelle und feierliche Messen, der Eintritt kostet in diesem Fall 18 Pesos, vier Euro. Der Salón Canning gehört zu den Hochburgen der Bewegung, und das bereits länger, wie schon der Name beweist.

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Die Hauptstraße draußen in diesen Ausläufern des Viertels Palermo war einst nach dem britischen Politiker George Canning benannt, wurde nach nationalistischen Manövern, Militärdiktatur und der Schmach im Krieg um die Falklands aber längst zu Ehren des argentinischen Autors Scalabrini Ortiz umgetauft.

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:Tango Argentino - Tanz der Leidenschaft

Beim Tango kommen sich Tänzer in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires nah. Ganz nah.

Seit dem 50. Jubiläum der Einrichtung vor einigen Jahren klebt an einer der aprikosenfarbenen Wände unter den hohen Decken mit den eisernen Ventilatoren eine kitschige Fotocollage von Tänzerinnen und Tänzern, ansonsten ist es eher schlicht.

Am Tresen gegenüber holen livrierte Kellner Champagner, Rotwein und Espressi hervor. Das Frauenklo liegt links neben der Theke, das Männerklo im Gang hinter dem Kiosk eines Toilettenwärters mit Kosenamen El Pipa.

Selbstverständlich besitzt der Großraum Buenos Aires mit seinen 13 Millionen Einwohnern auch die gängigen Attraktionen einer internationalen Metropole, schräge Bars wie das Kim&Nowak in der Nähe vom Flohmarkt, Techno-Discos wie das Pacha am Ufer des Rio de la Plata, Aufreißer-Schuppen wie das Museum in San Telmo.

"Der traurige Gedanke, den man tanzen kann"

Argentiniens Zentrale bietet neben Sao Paulo die aufregendsten Vergnügungen Südamerikas - allein in diesem Stadtteil Palermo mit seinen Bezirken Soho und Hollywood wuchs nach dem Staatsbankrott 2001/2002 und der folgenden Wiedergeburt ein Dschungel an gestylten Kneipen und Restaurants. Doch wer Milongas für Touristenkitsch hält und für Folklore, der hat nichts verstanden.

Wie üblich sind auch im Salón Canning ein paar Ausländer vertreten, darunter eine Studentin aus Chicago sowie eine Japanerin. Die halbe Welt verehrt inzwischen diese Rhythmen, das kommt dem argentinischen Fremdenverkehr sehr entgegen. Allerdings lieben ihr erfolgreichstes Kulturgut wieder vor allem die Argentinier selbst.

Tango, der "traurige Gedanke, den man tanzen kann", wie der Komponist Enrique Santos schrieb, Tango, "der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens" (George Bernhard Shaw), ist mehr als ein Fall für überteuerte Shows.

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Tango ist wieder die Seele von Buenos Aires, in dessen Bordells und Spelunken Immigranten diesen Stil im 19. Jahrhundert erfunden haben. Die Büste des toten Barden Carlos Gardel steht mit einer stets brennenden Zigarette zwischen den Lippen auf dem Friedhof von Chacarita, und es heißt, er singe jeden Tag besser. Argentiniens Tangoszene wird jeden Tag lebendiger.

Vorbei die Zeiten, als dies als staubiges Relikt der Eltern galt. Madonna, House und einheimische Rockstars sind beim Nachwuchs noch populärer, der Tango indes boomt trotzdem in verschiedenen Altersklassen. Auf einmal lassen sich selbst Jugendliche diese merkwürdigen Figuren beibringen.

Ende 2007 wurden in Buenos Aires wöchentlich 300 Tangoveranstaltungen registriert, an 120 Orten, mit 35000 Besuchern - das Angebot hat sich in fünf Jahren verzehnfacht. Allein in den Milongas geben laut Berechnungen der Zeitung La Nación 1,9 Millionen Aktivisten jährlich 28,5 Millionen Pesos aus, 6,5 Millionen Euro. Es gibt Weltmeisterschaften, Stadtmeisterschaften, es gibt öffentliche Milongas auf der Avenida de Mayo. Die oft bizarren Tanzlokale haben Namen wie La Catedral, Club Gricel, Club Atlético Fernandez Fierro, Sunderland Club. Sogar eine Milonga für Schwule hat sich etabliert, La Marshall.

In der Confitería Ideal aus dem Jahre 1912 im ramponierten Geschäftszentrum wird tagsüber Kaffee und Kuchen serviert und nachts im ersten Stock getanzt, unter verstaubten Kronleuchtern und zwischen Marmorsäulen.

Zum Frühstück süße Media Lunas

Im Salón Canning treffen noch gegen drei Uhr neue Mitstreiter ein, es dauert bis um fünf oder länger. Bald lässt sich der Sichelmond, der auf der südlichen Halbkugel horizontal im Himmel hängt, durch süße Halbmonde ersetzen, Media Lunas, Argentiniens Frühstücksgebäck.

Irgendwann taucht die Sonne aus dem Rio de la Plata. Experten bringen in Stoffsäcken ihre Tanzschuhe mit. Eine sehr bunt gekleidete Dame verteilt die Gratis-Zeitschrift La Milonga mit den wichtigen Terminen. Ein Typ mit zurückgegelter Mähne wankt mit Whiskeyglas durch die Reihen, erweist sich jedoch als erstaunlich versierter Milongero.

Zwischen den Tänzen ist es meistens kurz still, außer bei Auftritten einer Band wird bei Milongas nicht geklatscht. Nostalgie ist nicht fröhlich. Geht es weiter, schmiegen sich immer neue Duos aneinander und vergessen den Rest.

"Vielleicht eignet sich keine Musik so für die Träumerei wie der Tango", schreibt Ezequiel Martínez, "man kann in seinem Takt die Gedanken anhalten und die Seele im Körper treiben lassen." Die alte Frau mit dem feuerroten Kleid schließt in den Armen ihres Galans die Augen, ein gutes Zeichen. Tanzen fällt ihnen leichter als gehen. Als sie das Karree verlassen, da sieht man, dass sie humpeln.

© SZ vom 11.09.2008/viw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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