Spreebogen:Lob der Zögerlichkeit

Lesezeit: 2 min

Ein Treffen mit der Bundeskanzlerin zum Kaffee ist die Krönung. Aber man sollte sich vorher nicht nur mit der großen Anziehungskraft der Macht beschäftigen, sondern auch mit der geringen Saugkraft von Notizzetteln.

Von Nico Fried

Neulich waren wir zum Interview bei der Bundeskanzlerin. Es gab Kaffee. Weil ich den Kaffee gerne weiß trinke, nahm ich das kleine Kännchen, goss mir einen Schuss Milch ein, zog das Kännchen zu schnell über der Tasse weg und kleckerte einen Tropfen Milch auf die Tischplatte. Genau so stellt man sich den Auftakt eines gelungenen Besuches bei der Bundeskanzlerin vor.

Hinten im Eck von Angela Merkels Büro steht eine weiße Couch-Garnitur, die ganz gemütlich aussieht und von der aus man einen schönen Blick auf den Reichstag hätte - meistens jedoch empfängt die Kanzlerin an einem schlichten rechteckigen Tisch, übrigens nicht nur Journalisten, sondern auch Minister und so. Ich denke, dass man die Couch irgendwann noch zu einem anständigen Preis verkaufen kann, weil sie selten benutzt wird. Und weil sie keine Kaffeemilchkleckse hat, jedenfalls nicht von mir.

Auf dem Tisch, an dem wir saßen, sah es ähnlich aus wie auf dem Esstisch bei mir zu Hause: Unterlagen, Mappen und Zettel waren in Stapeln zur Seite geschoben worden, damit meine Kollegen und ich und der Regierungssprecher und das Kaffeegeschirr ausreichend Platz hatten. Bei mir werden immer Zeitungen, Post und auch irgendwelche Zettel herumgeschoben, damit meine Familie, die Lasagne und die Teller Platz haben. Der Regierungssprecher würde bei uns aber nicht mehr hinpassen, weil der Esstisch kleiner ist als der Tisch im Kanzlerbüro.

Selbstverständlich habe ich in Merkels Büro heimlich versucht, in den Notizen zu lesen, die auf dem Tisch lagen. Die Kanzlerin hat aber eine nicht ganz leicht zu entziffernde Handschrift, zumal wenn man über Kopf lesen muss. Bemerkenswert fand ich allerdings, dass die Notizzettel von einem Block stammten, der das Logo des schon Monate zurückliegenden G-20-Gipfels in Australien trug. Offenbar ist Merkel beim Aufbrauchen alter Notizblöcke doch ganz schwäbische Hausfrau.

Zurück zum Milchklecks. Leider gab es keine Servietten. Und ich hatte keine Taschentücher dabei. Ich wollte aber auch niemanden fragen, denn ich hatte den Eindruck, dass die Kanzlerin den Klecks noch nicht entdeckt hatte. Wozu also schlafende Hunde wecken, wenn diese Metapher hier erlaubt ist. Statt dessen wog ich die verbliebenen zwei Varianten zur unauffälligen Beseitigung des Kleckses ab: entweder Einsatz des Sakko-Ärmels, im Vertrauen auf die chemische Reinigung; oder Aufwischen mit dem Zettel, auf dem ich meine Fragen notiert hatte.

Merkel selbst hätte wahrscheinlich abgewartet, jedenfalls schreiben wir Journalisten ja immer total kritisch über die Zögerlichkeit der Kanzlerin. Folgerichtig musste ich Tatkraft demonstrieren, wenigstens mir selbst gegenüber. Ich entschied mich für den Fragenzettel, schob ihn so unauffällig wie möglich über den Milchklecks - und lernte in einer sehr eindrucksvollen Lektion, dass normales Papier leider null Saugwirkung entfaltet, wohl aber einen kleinen Milchklecks ruckzuck in einen großen runden fettig-schmierigen Fleck verwandeln kann.

Nun sah auch Merkel das Malheur. Sie sagte nichts. Ich wiederum finde jetzt, man sollte das mit ihrer Zögerlichkeit nicht immer so kritisch sehen.

© SZ vom 06.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: