Spreebogen:Liebe Frau S.

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Nico Fried wurde 1966 in Ulm geboren. Er leitet seit 2008 das Parlamentsbüro der Süddeutschen Zeitung in Berlin und trägt auch im Sommer meistens feste Halbschuhe. (Foto: N/A)

Leserbriefe zu bekommen ist gar nicht so schwer, man muss nur genug Fehler machen. Schwieriger ist es, sich für Leserbriefe zu bedanken, die es wirklich gut mit einem meinen. Denn nichts ist schneller vergessen als eine Antwort.

Von Nico Fried

Neulich habe ich festgestellt, dass mir ein schwerer Fehler unterlaufen ist. Nein, ich meine nicht den Kommentar vom 13. April, in dem ich geschrieben habe, dass Syrien bereit war, seine Atomwaffen zu vernichten, obwohl es die Chemiewaffen waren. Ich meine auch nicht das Stück über Angela Merkel und Sigmar Gabriel vom 6. Mai, in dem ich TTIP als deutsch-amerikanisches Freihandelsabkommen bezeichnete, obwohl es natürlich die Europäische Union mit den USA verhandelt. Solche Fehler sind wahrscheinlich mit meinem hohen Alter zu erklären. Die gerechte Strafe dafür ist, dass sich mein Alterungsprozess mit jedem dieser Fehler noch beschleunigt, wenn ich von freundlichen Lesern darauf hingewiesen werde.

Der Fehler, den ich aber eigentlich meine, ist genau genommen eine Unterlassungssünde. Er betrifft die Leserin Iris S. aus Thüringen. Frau S. hat mir über viele Monate hinweg immer wieder Leserbriefe zu dieser Kolumne geschrieben, vielleicht nicht jede Woche, aber mindestens jede zweite. Es waren sehr sorgfältig mit der Hand geschriebene Briefe auf kariertem Papier, manchmal mehrere Seiten. "An die Redaktion der SZ-Berlin zu Hd. von Herrn Nico Fried" stand im Briefkopf. Und unter meinen Namen hat Frau S. stets eine weiche Wellenlinie zur Hervorhebung gemalt.

Die Briefe von Frau S. waren nett. "Die SZ ist meines Erachtens, insbesondere Sie, Herr Fried, die einzige deutsche Institution, die im Rahmen der Pressefreiheit eine gewisse objektive Kritik an Frau Merkel erkennen lässt", stand in einem Brief. Ein anderes Mal nahm sie sich meiner Rückenprobleme an und riet mir, durch Alkoholverzicht mein Gewicht zu reduzieren. Als ich in einer Kolumne berichtet hatte, dass ich häufig vergesse, mich vor Terminen mit Papier und Stift auszustatten, schickte mir Frau S. einen Teil von ihrem Schreibblock, rosa Papier, kariert, etwa 50 Blatt. Eine bezaubernde Geste.

Ich habe mich nie dafür bedankt.

Das war natürlich keine böse Absicht. Ich denke in solchen Fällen sofort daran, mich zu bedanken, aber dann denke ich, schreib' erst noch schnell den Kommentar über die syrischen Atomwaffen. Wegen des Redaktionsschlusses. Und danach denkt man wieder und wieder: Du musst dich noch bedanken. Aber wieder und wieder kommt auch was dazwischen: ein Anruf, eine Eilmeldung, ein Hickmann, eine Mail, Hunger, ein Braun, meine Sekretärin, ein Tweet, Durst, mein ehemaliger Büroleiter, der heute mein Chefredakteur ist, noch mal der Hickmann, weil er vorhin was vergessen hat. Und wenn dann endlich Ruhe ist, fällt mir ein: Schluck, du musst ja noch den Spreebogen schreiben.

Am nächsten Tag ist Hickmann dann auf Dienstreise, und ich habe endlich Zeit, Briefe und Mails von Lesern zu beantworten. Allerdings zieht man natürlich jene Schreiben vor, die einen darüber informieren, dass Syrien nicht die Atom-, sondern die Chemiewaffen vernichtet hat. Man will sich ja nicht dem Vorwurf aussetzen, Kritik zu ignorieren. Frau S. aus Thüringen muss also wieder warten.

Nun hat sie aufgehört, Briefe zu schreiben. Und der Grund ist wohl kaum, dass sie kein Papier mehr hat.

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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