SOS-Kinderdorf:Eine richtig nette Familie

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"SOS" ist ein Notruf. Kinder, denen es in ihren Familien nicht gut geht, kommen in ein SOS-Kinderdorf. Wie Leonie, 11 Jahre. Wir haben sie in ihrer Ersatzfamilie besucht.

Von Alexa Hennig von Lange

Ein großes Backsteinhaus am Stadtrand von Hamburg. Es riecht nach Pizza. Eine grau getigerte Katze streift durch die Küche. Leonie, elf Jahre alt, wohnt hier mit ihren fünf Geschwistern.

Die fünf Geschwister sind nicht ihre echten Geschwister. Die Mutter ist nicht ihre echte Mama. Und das Backsteinhaus ist nicht das Haus ihrer echten Familie. Leonie ist eins von 54 Kindern, die im SOS-Kinderdorf Harksheide leben. Einer vor 50 Jahren errichteten Siedlung, in der sieben Familien wohnen - Familien mit Kindern in Not, die dringend ein neues Zuhause brauchten. Seit sechs Jahren wohnt Leonie schon hier in ihrer SOS-Kinderdorf-Familie. Sie will nicht mehr weg.

Zu Steffi, ihrer SOS-Kinderdorf-Mutter, sagt sie ganz selbstverständlich Mama - obwohl Leonie auch noch eine eigene, echte Mama hat. Die sieht sie alle 14 Tage, wenn sie für ein paar Stunden zu Besuch kommt und mit Leonie ins Einkaufszentrum geht.

Leonie und Steffi, ihre SOS-Kinderdorf-Mutter, haben im Wohnzimmer den Esstisch gedeckt. Leonie verteilt Pizza. Ihr kleiner Kinderdorf-Bruder Timo und ihre Kinderdorf-Schwester Jordan kommen gerade aus der Schule. Beide gehen in die erste Klasse der nahe gelegenen Grundschule. Sie erzählen, dass sie heute von Mitschülern geärgert wurden, weil sie SOS-Kinderdorf-Kinder sind. Steffi sagt: "Das passiert immer mal wieder. Lustigerweise sind das meistens die Kinder, die besonders gerne am Nachmittag zu uns zum Spielen kommen. Ich glaube, sie sind ein bisschen neidisch." Leonie stimmt ihr zu: "Hier bei uns ist es auch schön! Wir haben Ponys, einen Rodelberg, überall Spielplätze und sogar eine eigene Werkstatt. Viele Kinder zum Spielen und ein Dorfgemeinschaftshaus. Das ist schon etwas Besonderes!"

Ihre leibliche Mutter sieht Leonie alle zwei Wochen

Nach dem Essen führt Leonie durchs Haus. Die Wände im Zimmer der Mutter sind violett gestrichen. Leonie mag das. "Ich wünsche mir die gleiche Wandfarbe." Im ersten Stock sind die Zimmer der Kinder alle verschieden eingerichtet: Mit bunten Deckenlampen, Prinzessinnen-Spiegeln und selbstgebauten Hochbetten. Gemeinsam mit Erzieher Lars, der auch im SOS-Kinderdorf arbeitet, hilft Steffi den Kindern, sich ihre Zimmer nach ihren Vorstellungen einzurichten. Und in der Adventszeit darf jedes Kind aus dem Dorf zwei Wunschzettel an den Weihnachtsbaum eines Hamburger Geschäfts hängen, die von den Kunden erfüllt werden. An Heiligabend kommt dann eine riesige Ladung Geschenke an. "Wir können nicht ständig neue Sachen kaufen", sagt Leonie. "Wenn wir als Familie was brauchen, müssen wir das bei der Verwaltung beantragen, und dann kriegen wir das im nächsten Jahr." Obwohl die Kinderdorf-Familie ein bisschen anders funktioniert als "normale" Familien, sieht ihr Zuhause gar nicht so viel anders aus: Im großen Wohnzimmer steht ein Fernseher mit Playstation - die aber nur nach Absprache mit Steffi benutzt werden darf. Überhaupt läuft viel nach Plan - der hängt am Kühlschrank. Damit jedes Kind genau weiß, was seine Aufgaben und Pflichten sind: Wer deckt den Tisch? Wann ist Pferdezeit? Wann kommt Papa zu Besuch, und wann ist Jungsgruppe? "Da treffen sich ein paar Jungs aus dem Dorf und machen eben Jungssachen", erklärt Timo. "Auf Bäume klettern und so."

Während Leonie im Wohnzimmer auf dem gespendeten Klavier den Flohwalzer spielt, hilft Steffi ihren anderen Kindern bei den Hausaufgaben. Es herrscht eine fröhliche, familiäre Stimmung. Alle reden durcheinander. Nur als Steffi davon erzählt, dass sie einmal im Jahr allein in Urlaub fährt, sind alle ganz still. Die Urlaubszeit ist für alle eine besondere Zeit. Denn dann schläft Mama nicht in ihrem Zimmer, sondern eine Kollegin. Ansonsten ist Steffi immer da. "Vor allem abends. Da werden die Kinder manchmal traurig und vermissen ihre Mama oder ihren Papa." Und darum ist es für Steffi auch gar nicht so leicht, in den Urlaub zu fahren. Sie weiß, wie sehr sie ihren SOS-Kinderdorf-Kindern Sicherheit und Heimat gibt. Aber auch andersherum. Steffi lächelt und nimmt Jordan auf den Arm. "Nach einer Woche vermisse ich meine Rasselbande schon so sehr, dass ich am liebsten wieder nach Hause will." Leonie grinst. "Und das Gute ist, Mama bringt uns immer etwas Schönes mit."

© SZ vom 31.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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