Reisen:Wie venedigt's?

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Cesare, 11, wohnt in der italienischen Stadt Venedig. Hier erzählt er vom Leben am Wasser, Geheimwegen und seinem großen Traum.

Von Kathrin Schwarze-Reiter

Wenn Cesare morgens aufwacht und noch etwas im Bett liegen bleibt, hört er Wellen an die Hauswand schwappen, die Möwen kreischen, manchmal zieht ein Frühaufsteher-Gondoliere singend an seinem Fenster vorbei - mit dieser ganz besonderen Geschwindigkeit, schneller als ein Fußgänger, langsamer als ein Fahrrad: Alles fließt. Dazu der gemächlich gluckernde Rhythmus, in dem er den Remo, das Ruder, in den Kanal tunkt, vorsichtig darin rührt, als ob er geschlagenes Eiweiß in einen Kuchenteig unterheben wollte. Es riecht nach Salzwasser und morschem Holz.

Cesare, 11, wohnt in Venedig. Die Stadt im Norden Italiens steht ganz im Wasser, auf 118 Inseln. Zwar gibt es auch ganz normal gepflasterte Wege, aber es sind die Kanäle, die den Takt angeben. Manche sind wie Einbahnstraßen nur in eine Richtung beschiffbar, andere für Motorboote gesperrt, der Canal Grande, der große Kanal, der sich wie ein Fragezeichen durch die Stadt schlängelt, ist so breit wie eine Autobahn. Die Post kommt per Boot, die Müllmänner arbeiten vom Schiff aus, sogar schwimmende Obst- und Gemüsegeschäfte schaukeln hier in den Wassergassen.

Cesare, 11: „Ich kenne jede Menge Geheimwege.“ (Foto: Kathrin Schwarze-Reiter)

Es ist ein eigener Puls, den das Wasser Venedig gibt. Von den Gezeiten, die ein langsames An- und Abschwellen in die Stadt bringen, bis zum Notfall, wenn Feuerwehr, Polizei oder Rettungsdienst mit Blaulicht durch die Kanäle rasen. Von verschlickten fast trockengelegten Kanälen wie vor zwei Monaten bis zum acqua alta im Winter, Hochwasser also. Bis zu zwei Meter hoch, dann sind wirklich alle Wege und Plätze in der Stadt unter Wasser. "Wenn wir in der Nacht die Sirene heulen hören", sagt Cesare, "wissen wir schon Bescheid. Mir macht acqua alta Spaß. Ich liebe Gummistiefel."

Für viele ist Venedig wie ein riesiges Museum. Die prachtvollen Gebäude, die riesigen Plätze, die minischmalen Gassen, die engste, die Calle Varisco misst nur 53 cm, ist also weniger breit als ein Skateboard lang. Durchschnittlich sind jede Woche zehn Mal mehr Touristen in Venedig, als Menschen dort wohnen. Wo andere Urlaub machen, geht Cesare in die Schule, macht Klingelstreiche, kickt mit Freunden. Machen die Touristen einen nicht wahnsinnig? "Ich kenne jede Menge Geheimwege", sagt Cesare.

Von oben sieht Venedig aus wie ein Fisch mit einem Fragezeichen im Bauch. (Foto: wikimedia commons/Kirra/CC BY-SA 3.0)

Wenn man - wie eine Möwe - von oben draufschaut, sieht Venedig ein bisschen aus wie ein Fisch. Cesare wohnt da, wo beim Fisch Auge und Gehirn sitzen, in Cannaregio. Zur Schule läuft er bis zum Fischmaul, 1200 Meter, fünf Brücken. Manche Kinder haben Schulranzen mit Rollen unten dran. Cesare findet die aber ziemlich uncool. "Außerdem kommt man damit schlecht über die Brücken." In der Stadt läuft man viel zu Fuß. Es gibt keine Autos - nur ein als Auto verkleidetes Boot tuckert manchmal durch die Kanäle. Cesare freut sich schon darauf, wenn er mal sein eigenes Boot hat. Manche Jungs haben eines mit eingebauter Soundanlage und Lichterschlange, die im Dunkeln bunt leuchtet. So eines hätte Cesare gerne. Die Nähe zum Wasser ist aber immer auch eine Gefahr. Selbst Kleinkind-Venezianer können sich zumindest mit Ruderbewegungen über Wasser halten, bis sie jemand aus dem Kanal zieht. "Dann geht's gleich ab zum Kinderarzt, der vorsorglich ein Antibiotikum gibt", sagt die Mutter. Denn in manchen Kanälen ist es ganz schön dreckig. Cesare hat schon mit drei Schwimmen gelernt.

E-Scooter und Fahrräder sind in Venedig verboten, sogar schieben darf man sie nicht - wer erwischt wird, muss 100 Euro Strafe bezahlen. Fürs Fahrradschieben! Doch bei Kindern drückt die Polizei ein Auge zu. Cesare hat das Radfahren mit vier gelernt - ohne viel Spaß. "Man kommt ja immer nur bis zur nächsten Brücke." Über die vielen Stufen auf den etwa 435 Brücken ärgern sich viele. "Vor allem für ältere Menschen oder Mütter mit Kinderwagen ist das wirklich schwierig." Einwohner fordern Brücken auf den Brücken - also glatte Bahnen, über die man leichter rollen kann. An einigen wenigen Brücken gibt es sie schon.

Türen, die man nur vom Wasser aus betreten kann. (Foto: gca)

Aber das größte Problem in Venedig ist das echte Leben. Das gibt es nämlich immer weniger. Mieten sind zu teuer, jenseits des Tourismus gibt es wenig Arbeit. "Als wir eine neue Mikrowelle brauchten, mussten wir ans andere Ende der Stadt." Viele bestellen daher im Internet. Die Pakete werden dann mit dem Lastenkahn geliefert. Manchmal sieht man Boote mit einem Bett oder einem riesigen Flachbildschirm vorbeifahren.

Nach der Schule trifft sich Cesare gerne mit seinen Freunden zum Kicken, zum Beispiel auf dem großen Campo, dem Platz direkt vor dem Restaurant Upupa seiner Eltern. Zwei Schulranzen an eine Mauer gestellt, fertig ist das Tor. Die Touristen sind nicht das Problem. "Wir spielen einfach trotzdem. Aber du musst echt aufpassen mit dem Kanal." Und wenn der Ball doch mal reinfällt? "Dann muss man halt warten. Bald kommt einer auf einem Boot und fischt ihn raus." Alles fließt.

© SZ vom 28.05.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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