Reden wir über:Zensur

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Auf der Covent Garden Piazza in London brüllen die Straßenkünstler. Gegenüber sitzt die türkische Schriftstellerin Elif Shafak in einer Ecke und erzählt aus ihrem Leben zwischen den Welten.

Interview von Julia Rothhaas

SZ: Frau Shafak, vor ein paar Jahren haben Sie geschrieben: "Es ist nicht einfach, Türke zu sein". Wie ist das heute?

Elif Shafak: Es wird immer schwieriger. Ich war im Sommer auf Lesereise und bin von Istanbul wieder nach London geflogen. Einen Tag später wurden bei dem Anschlag am Atatürk-Flughafen 36 Menschen getötet. Es blieb aber keine Zeit, diese Tragödie zu verarbeiten, weil knapp zwei Wochen später schon der nächste Schrecken folgte, der Putschversuch mit mehr als 200 Toten. Es ist also tatsächlich sehr anstrengend, Türke zu sein.

2006 wurden Sie angeklagt, in Ihrem Roman das Türkentum beleidigt zu haben. "Der Bastard von Istanbul" thematisiert den Völkermord an den Armeniern. Können Sie erklären, was das ist, das Türkentum?

Das weiß niemand genau. Und das ist das Problem. Jeder kann behaupten, dass ihn ein Roman oder ein Gedicht beleidigt hat. Die Regierung hat den Türkentum-Paragrafen 301 im Strafgesetzbuch nicht abgeschafft; es ist nur schwieriger geworden, jemanden unter Berufung darauf vor Gericht zu bringen. Aber das bedeutet gar nichts. Der Paragraf muss abgeschafft werden, er behindert die Meinungsfreiheit. Journalisten, Schriftsteller, Akademiker und sogar Karikaturisten können jederzeit angeklagt werden.

Wie offen können Sie heute sprechen?

Jeder in der Türkei weiß, dass man schon wegen eines Satzes missverstanden werden kann. Das macht es schwer, sich frei zu äußern. Mir ist es wichtig, heute deutlich zu machen, wie sehr ich diesen schrecklichen Putsch verurteile. Und die westlichen Medien müssen verstehen, was für ein großer Schock das für die türkische Gesellschaft war. Das Land hat schon mehrere Aufstände erlebt, danach gab es jedes Mal einen massiven Verstoß gegen Menschenrechte, die Demokratie wurde zerstört. Ich bin gegen militärische Machtübernahmen. So etwas darf nie wieder passieren! Wir haben so lange für die Demokratie gekämpft, jetzt müssen wir sie verteidigen. Die Türkei braucht eine echte pluralistische Demokratie.

Aktuell erlebt das Land dramatische Rückschritte in Sachen Demokratie.

Zunächst müssen wir den Putsch mit aller Macht verurteilen, er hat alles nur schlimmer gemacht. Erst dann können wir über Rückschritte sprechen. Ich bin kein Fan der AKP, im Gegenteil. Aber in einer Demokratie wählen die Menschen ihre Regierung, das muss man respektieren. Die Putschisten wurden hingegen nicht gewählt. Sie haben rechtswidrig und antidemokratisch gehandelt und versucht, mit Gewalt an die Macht zu kommen. Das ist inakzeptabel. Momentan herrscht ein großes Durcheinander. Ich finde den Ultra-Nationalismus und den politischen Islam sehr gefährlich, beide erleben einen enormen Aufschwung. Es ist wichtig, die Paranoia der Menschen zu verstehen, denn es gab da einen Komplott von zwielichtigen Gülenisten innerhalb der Armee, deren Ausmaße niemand erahnen konnte. Doch das erste Mal in der Geschichte der Türkei sehe ich, wie Opposition, Sozialdemokraten und Nationalisten gemeinsam handeln. Ich weiß nicht, wie lange diese Flitterwochen dauern. Aber dieser Gemeinschaftsgeist ist wichtig. Trotzdem sorge ich mich natürlich, wie gerade alles außer Kontrolle gerät und Unschuldige verhaftet werden.

Glauben Sie, dass Sie weiterhin das schreiben werden können, was Sie wollen?

In der Türkei ist die Selbstzensur seit vielen Jahren weit verbreitet. Darüber zu sprechen ist schwer, denn es ist ja auch ein bisschen peinlich. Für mich gibt es jedoch eine Grenze zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion. Wenn ich Essays für Zeitungen schreibe, muss ich über jeden Satz sorgfältig nachdenken. Schreibe ich jedoch einen Roman, geistere ich wie betrunken durch diese eigene Welt. Dann bin ich viel mutiger und vergesse die Realität.

Hat Ihr Verlag Sie je gebeten, etwas zu ändern?

In meinem neuen Buch gibt es zum Beispiel eine Folterszene, dergleichen passierte in den Achtzigerjahren oft in Gefängnissen in der Türkei. Meinen türkischen Verlegern war die Beschreibung zu explizit. Es wird also mal etwas gekürzt, aber etwas Grundsätzliches würde ich nie ändern.

Nach Ihrem Freispruch wollten Sie nichts mehr über die Politik in der Türkei sagen, inzwischen schreiben Sie regelmäßig politische Essays. Was hat sich verändert?

Es stimmt nicht, dass ich mich nicht mehr äußern wollte. Schriftsteller aus Ländern wie Pakistan, Nigeria, Ägypten oder der Türkei können es sich gar nicht erlauben, nicht politisch zu sein. Der Genozid an den Armeniern ist bei uns ein riesiges Tabu. Aber genauso ist es mit sexuellen Tabus, Homophobie, Inzest, Vergewaltigung in der Ehe, häuslicher Gewalt. Wenn man als Frau über solche Themen schreibt, gehen die Türken gleich davon aus, dass einem so etwas selbst schon passiert ist. Autorinnen gesteht man nicht die gleiche Vorstellungskraft wie Autoren zu. Ich werde immer noch wegen einer Frau in einem meiner Romane angegangen, die ihren Mann verlässt, weil sie sich in einen anderen verliebt hat. Es heißt, ich müsse Vorbild sein. Man kann den Menschen dort nur schwer erklären, dass die Literatur eine eigene Welt ist.

Die Türkei liegt weltweit vorne mit ihren Forderungen, Tweets bei Twitter löschen zu lassen. Sind Sie schon zensiert worden?

Nein. Aber mir macht Angst, dass man durch Kritik automatisch zum Verräter wird. Wir müssen verstehen, dass man die Politik kritisieren und trotzdem sein Land lieben kann. Das klingt simpel, aber an diese Tatsache müssen wir die Menschen erinnern. Aktuell bitten mich viele Deutsch-Türken, nichts Negatives über die Türkei zu schreiben, weil die Deutschen eh schon so viel Negatives über ihr Land sagen und denken. Sie stehen unter einem großen emotionalen Druck. Andere wiederum kritisieren mich, nur weil ich auf Türkisch und Englisch tweete.

"Bei der Verteidigung der EU war ich leidenschaftlicher als viele meiner Freunde", sagt Elif Shafak. (Foto: Christian Sinibaldi/INTERTOPICS/eyevine)

Warum?

Gerade viele Literaten sehen das als kulturellen Verrat. Würde ich auf Türkisch und Arabisch schreiben, wäre es egal. Aber in ihren Augen sind Englisch, Deutsch, Französisch die Sprachen des Kolonialismus. Ich mag keine nationalistischen Weltanschauungen. Wenn wir in mehr als einer Sprache träumen können, dann können wir auch in mehr als einer Sprache schreiben.

Ist es leichter, auf Englisch zu schreiben, weil Sie dadurch etwas Distanz zwischen sich und die Türkei bringen?

Ja, aber das bedeutet nicht, dass ich mich damit emotional von ihr entferne.

Sie sind für Ihren schwarzen Humor bekannt. Hat der sich in den vergangenen Jahren verändert?

Klar, wir dürfen in der Türkei ja nicht mal mehr über unsere Politiker lachen. Für mich ist es inzwischen leichter, über Kummer, Melancholie, Sehnsucht und Verlust auf Türkisch zu schreiben. Geht es um Humor, Ironie und Satire, wechsle ich ins Englische. Ironie ist eine vielschichtige Form von Humor, die man nur schwer erklären kann. In der Türkei kennen wir das kaum.

Glauben Sie, dass Erdoğan die Türkei weiter grundlegend verändern wird?

Die AKP ist seit mehr als 13 Jahren an der Macht. Am Anfang hatten viele Liberale und Intellektuelle, auch ich, ein viel positiveres Bild von ihr, weil sie für die EU und für eine neue liberale Verfassung war. Aber mit der Zeit wurde es immer autoritärer. In der Türkei herrscht heute eine Ideologie der Gleichheit, die alles dominiert. Ohne Vielseitigkeit kann sich eine Gesellschaft aber nicht weiterentwickeln, die Demokratie kann nicht überleben.

Die politische Lage verursacht gerade Streit in vielen türkischen Familien, langjährige Freundschaften zerbrechen sogar daran. Streiten Sie sich au ch?

Nein, aber ich kenne viele, die mit ihren Freunden nicht mehr reden. Die Politik macht die Menschen sehr emotional. Aber wir können doch für unterschiedliche Parteien abstimmen, unterschiedliche Ansichten auf die Welt haben und anschließend trotzdem zusammen einen trinken gehen. Diesen Geist haben wir verloren.

Fehlt es an Empathie?

Ja, vor allem der offiziellen Geschichtsschreibung. In einer echten Demokratie kann man jede Menge Bücher finden, in denen die gleiche Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschrieben wird. Reduziert man die Geschichte auf nur einen Erzähler, zeugt das von Intoleranz. Wir müssen den Leser entscheiden lassen.

Es mangelt also an Selbstkritik ?

Die Menschen in der Türkei behaupten, dass unsere Vorfahren nie etwas falsch gemacht haben. Woher sollen wir das wissen? Das Osmanische Reich dauerte mehr als 600 Jahre. Eine Konkubine, die auf dem Sklavenmarkt verkauft wurde, hatte mit Sicherheit einen anderen Blick darauf als ein Mufti, ein jüdischer Kerzenmacher oder ein griechischer Bauer. Es hängt davon ab, wer die Geschichte erzählt.

Sie haben seit vielen Jahren Ihren Hauptwohnsitz in London. Hat Sie das Leben im Ausland von der Türkei entfremdet?

Ich glaube, die Distanz hat mich meiner Heimat emotional nähergebracht. Ich mache mir viel mehr Sorgen um die Türkei, seitdem ich in London bin. Aber ich führe schon immer ein Nomadenleben. Ich bin in Straßburg geboren, habe einen Teil meiner Kindheit in Madrid verbracht, habe in den USA gelebt, war lange in Deutschland und in Jordanien. Jetzt lebe ich in London. Ich glaube, ich weiß nicht, wie man Wurzeln schlägt.

Die Nationalisten fordern: "Love it or leave it". Können Sie sich vorstellen, Ihrer Heimat aus Protest fernzubleiben?

Der Slogan ist ein großes Missverständnis, ich mag diesen Absolutismus nicht. Ich habe ohnehin eine Art Pendel in mir: Wenn ich in London bin, vermisse ich Istanbul. Die Stadt ist sehr wichtig für mich. Aber kaum bin ich da, habe ich bald das Gefühl zu ersticken und reise ab. Und vermisse die Stadt wieder. Fahre hin. Und flüchte wieder. Ich glaube, Istanbul ist eine schwierige Liebhaberin. Aber so sind manche Liebesbeziehungen eben.

Im Alter von zehn Jahren zogen Sie mit Ihrer Mutter, einer Diplomatin, von Ankara nach Madrid und besuchten dort eine Internationale Schule. Was haben Sie in dieser Zeit über Ihre Heimat gelernt?

Bis dahin war ich immer Elif. Dort war ich nur noch "die Türkin". Ich begann darüber nachzudenken, ob wir nur wir selbst sind oder eine Gesamtheit repräsentieren, die viel größer ist als wir. Es war nicht leicht, die einzige Türkin an der Schule zu sein. Es gab dort eine gewisse Hierarchie: Am beliebtesten waren die Kinder aus Großbritannien, Schweden, Holland. Da stimmte alles - im Gegensatz zur Türkei. Kurz bevor ich nach Madrid zog, gab es dort wieder einen Putschversuch, ein Türke versuchte, den Papst zu töten und beim European Song Contest bekam das türkische Lied "Opera" null Punkte. Die Kinder nannten mich "Opera" oder "Pope". Viele Kinder hätten gewusst, sich gegen diese Spitznamen zu wehren, aber ich war sehr introvertiert. Ich habe das alles hingenommen.

Dabei sind Si e mit Ihrem Lebenslauf vermutlich mehr Europäerin als die meisten.

Dieses Jahr war seltsam: Ich lebe in einem Land, das nicht mehr Teil der EU sein wollte, und komme aus einem Land, das jahrelang versucht hat, ein Teil der EU zu werden. Vor dem Brexit habe ich an vielen Podiumsdiskussionen teilgenommen, um die EU zu verteidigen. Da war ich leidenschaftlicher als viele meiner Freunde. Für mich steht die EU für Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Sie ist auch der Versuch, eine Einheit zu schaffen, die über den jeweiligen Staat hinausgeht.

Glauben Sie noch an einen EU-Beitritt der Türkei?

Es wird immer unmöglicher, aber es wäre so wichtig. Für die Türkei selbst, für die Demokratie in der Region, aber auch für Europa. Eine Welt, die religiöse Grenzen zieht, ist eine gefährliche Welt. Seit 2006 verschließt sich die Türkei immer weiter. Das ist auch für Europa nicht gut. Ich nehme die Ängste der Menschen natürlich ernst, aber es ist wichtig, dass die Türkei an Europa anschließt und zu einer wirklichen Demokratie wird.

Sie wuchsen ohne Vater auf und lebten mit Mutter und Großmutter zusammen. Wie hat Ihr Umfeld auf die damals eher ungewöhnliche Familiensituation reagiert?

Wir kamen in den späten Siebzigerjahren aus Frankreich in ein mittelständisches, konservatives muslimisches Viertel in Ankara. All die anderen Familien hatten einen "baba", ein Oberhaupt, der die Familie steuerte. Meine Mutter war alleinstehend, sie ging wieder auf die Uni und arbeitete dann Vollzeit. Sie fiel auf. Ich nannte sie "abla", große Schwester, und meine Oma "anne", also Mutter. Denn sie kümmerte sich meist um mich. Die Nachbarn waren verwirrt, aber sie ließen uns in Ruhe.

Gab es Streit, weil Ihre Mutter so ein ganz anderes Leben als die Oma führte?

Meine Großmutter war sehr abergläubisch und traditionell, meine Mutter war hingegen gebildet, westlich, modern. Mir gefiel, dass sie so verschieden waren und sich trotzdem gegenseitig unterstützten. Diese Form von Schwesternschaft ist in der Türkei leider kaum zu finden, Frauen mit unterschiedlichem Hintergrund kommen selten zusammen. Ich habe durch die beiden den Osten und den Westen erlebt, die Spiritualität und den Säkularismus. Das war wichtig für mich und das ist es bis heute.

Wurde daheim viel über Politik geredet?

Wir hatten jede Menge Bilder von Atatürk in der Wohnung. Meine Mutter sagte immer, ich müsse ihm als Frau besonders dankbar sein, weil er den Säkularismus in die Türkei gebracht hat. Sollte sich das Land heute davon abwenden, werden wir Frauen mehr zu verlieren haben. Vor ein paar Jahren begannen konservative Politiker, uns zu erklären, wie wir unsere Leben zu leben haben. Eine türkische Politikerin habe ich hingegen nie sagen hören, wie viele Kinder Männer zeugen sollten, wie sie sich anzuziehen haben und ob sie in der Öffentlichkeit laut lachen dürfen. Ich möchte nicht, dass irgendein Glaube unser Leben dominiert. Religionen teilen die Menschen in "uns" und "die anderen".

In Ihren Büchern tauchen Transsexuelle, Derwische, Kurden und Armenier auf. Woher kommt das Bedürfnis, Minderheiten eine Stimme zu geben?

Nach der Scheidung heiratete mein Vater wieder und bekam zwei Kinder, um die er sich liebevoll kümmerte. Ich wiederum habe ihn fast nie gesehen, ich fühlte mich immer wie das "andere Kind", das vergessene. Vielleicht ist das ein Grund dafür, warum ich mich "anderen" so nahe fühle.

Sie haben zwei Kinder, zehn und acht. Was erzählen Sie den beiden von der Türkei?

Wie wichtig es ist, Weltbürger zu sein. In England begegnen ihnen so viele verschiedene Religionen, ständig gibt es irgendeinen Feiertag. Diese Unterschiedlichkeit wünsche ich mir auch für die Türkei.

In der Vielfalt liegt also der Schlüssel zur Demokratie?

Ja. Ich möchte, dass die Leute als Individuen behandelt werden. Wir sollten uns stets an die Wichtigkeit des Wortes Kosmopolitismus erinnern. Wir nehmen das alles für selbstverständlich, aber die Geschichte verläuft nicht immer vorwärts, manchmal geht sie auch rückwärts. Wenn wir unsere Freiheiten nicht zu schätzen wissen, können wir sie leicht verlieren.

© SZ vom 13.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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