Psychogenes Massenleiden:Die eingebildeten Kranken

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In Mexiko sind 600 Schülerinnen eines katholischen Internats erkrankt - eine Ursache konnte nicht gefunden werden. Nun vermuten Fachleute, dass die Mädchen sich die Krankheit nur einbilden.

Markus C. Schulte von Drach

Wie geht es Ihnen, wenn Ihr Arbeitskollege über einen seltsamen Geruch im Büro klagt und sich dann mit Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses bringen lässt?

Ein junges Mädchen wird aus der Schule La Villa de las Ninas getragen. (Foto: Foto: AP)

Mal ehrlich - wird Ihnen dann nicht auch ganz schummrig?

Natürlich könnte es sein, dass die Lüftung in Ihrem Büro wirklich ein Gift verbreitet. Vielleicht aber werden Sie auch nur das nächste Opfer eines Krankheitserregers, der nur in der Einbildung Ihres Kollegen - und nun auch in Ihrer - existiert.

Fachleute kennen das Phänomen unter dem Begriff psychogene Massenerkrankung. Und es scheint, als sei es in den letzten Monaten in Mexiko zu einem großen Ausbruch dieser eingebildeten Krankheit gekommen.

Wie die New York Times berichtet, klagten in einer Schule in Chalco, Mexiko, immer mehr junge Mädchen über Fieber und Schwierigkeiten beim Gehen - ihre Knie knickten immer wieder ein.

Die ersten Fälle der Krankheit traten im November und Dezember des vergangenen Jahres auf - doch nach den Weihnachtsferien breitete sich das mysteriöse Leiden schnell in der Schule La Villa de las Ninas aus. Schließlich waren 600 der 3600 Schülerinnen betroffen.

Doch die von den Schulleitung alarmierten Fachleute konnten bis heute nichts finden. Weder sind die Schülerinnen von einem bekannten Erreger befallen, noch lassen sich in den Schulgebäuden Krankheitsauslöser aufspüren.

Selbst Misshandlungen wurden als Ursache überprüft. Die Schule wird von römisch-katholischen Schwestern mit strenger Disziplin geführt. Die aus armen Familien stammenden Schülerinnen sind von der Umwelt und ihren Verwandten weitgehend isoliert.. Doch einen Zusammenhang zwischen den Umständen an der Schule und den Symptomen, die bei den Zöglingen auftraten, konnten die Experten nicht erkennen.

Und erkrankte Schülerinnen, die vom Unterricht befreit waren, kehrten nach einer Woche gesund in die Schule zurück, berichtet die New York Times.

Etwa 20 Psychologen und Psychiater staatlicher Krankenhäuser befragen seit einer Zeit die jungen Patientinnen. Und es sieht bislang so aus, als habe die Krankheit ihren Ursprung im Kopf der jungen Mädchen. Laien würden von Massenhysterie oder Massenpsychose sprechen.

Das Phänomen ist selten, wird jedoch immer wieder beobachtet.

Manchmal wird Medizinern vorgeworfen, sie würden die Krankheit nur diagnostizieren, um ihre Unfähigkeit zu kaschieren, die eigentlichen Krankheitsauslöser zu identifizieren.

Doch wie Victor Torres Meza von der mexikanischen Gesundheitsbehörde der New York Times erklärte, sind weltweit etwa 80 Fälle psychogener Massenerkrankungen dokumentiert.

Vorübergehende Symptome

Die Krankheit wird durch eine Reihe bestimmter Aspekte charakterisiert:

Es lässt sich keine organische Ursache für die Symptome finden. Die Beschwerden treten schnell auf, sind vorübergehend und nicht bösartig, und verschwinden bald wieder.

Sie treten innerhalb von mehr oder weniger geschlossenen Gruppen oder Gesellschaften auf - etwa unter Schülen einer bestimmten Schule oder den Beschäftigten einer Fabrik. Betroffen sind vor allem junge Mädchen.

Außerdem breiten sich die Symptome vor allem unter Personen aus, die andere Patienten gesehen oder von der Krankheit gehört haben. Meistens lässt sich auch eine Person feststellen, bei der die "Epidemie" ihren Ausgang genommen hat.

Zu einem bekannten Vorfall, der vermutlich eine psychogene Massenerkrankung darstellt, kam es im Februar 2005 am Melbourne Airport. Eine Angestellte einer Nachrichtenagentur brach dort ohne bekannten Grund zusammen und wurde ins Krankenhaus gebracht. In den nächsten Stunden meldeten sich weitere 56 Personen mit Atembeschwerden, Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit. 47 wurden im Krankenhaus behandelt.

Sie alle hatten sich in der unmittelbaren Umgebung des Terminals aufgehalten, wo der erste Fall aufgetreten war - und offenbar mitbekommen, dass dort etwas vor sich ging.

Ein Krankheitsauslöser wurde trotz intensiver Suche nicht entdeckt. Auch fanden sich viele der behandelten Patienten bald wieder am Flughafen ein, um ihre Reise fortzusetzen. Sobald bekannt wurde, dass es sich demnach nicht um eine ernste Gefahr handelte, traten keine weiteren Fälle auf.

Ein weiteres Beispiel dürfte der belgische Coca-Cola-Skandal sein. Im flämischen Bornen waren 1999 über mehrere Tage Dutzende belgischer Schüler mit Übelkeit, Kopfschmerzen und Fieber ins Krankenhaus gebracht worden, nachdem sie an ihrer Schule Coca-Cola oder Fanta getrunken hatten.

Einige Schüler berichteten von einem ungewöhnlichen Geruch der Getränke - doch über die Ursache gibt es nur Vermutungen. Gift konnte nicht festgestellt werden. Nach und nach klagten immer mehr Menschen auch aus anderen Städten über Vergiftungserscheinungen.

Wie sich herausstellte, hatten allerdings etliche der Patienten die Limonade seltsamerweise selbst gar nicht getrunken. Vermutlich hatten aber viele über die Medien von den angeblich giftigen Getränken gehört.

Bekannt ist auch der Fall der High School von McMinnvill in Tennessee. Dort nahm 1998 eine Lehrerin im Klassenzimmer einen benzinähnlichen Geruch wahr und klagte anschließend über Kopfschmerzen, Übelkeit, Kurzatmigkeit und Schwindel. Die Schule wurde evakuiert, 80 Schüler und 19 Lehrer begaben sich in die Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses.

Als die Schule nach fünf Tagen wieder geöffnet wurde, erkrankten erneut 71 Menschen. Die intensive Suche nach möglichen Ursachen durch eine ganze Reihe von Experten blieb erfolglos. Dass tatsächlich ein giftiges Gas durch die Schule gezogen war, wurde ausgeschlossen, da die Symptome bei Schülern aufgetreten waren, die sich in 36 verschiedenen, über das Gelände verteilten Klassenräumen aufgehalten hatten.

Ein Fragebogen ergab später, dass vor allem Mädchen betroffen waren, die einen anderen Patienten gesehen hatten, die gehört hatten, dass jemand aus ihrer Klasse betroffen war, oder die irgendeinen ungewöhnlichen Geruch bemerkt hatten.

Schützen kann man sich vor einer "Ansteckung" mit dieser Massenkrankheit kaum. Schließlich gelangen immer wieder reale Giftstoffe, Viren oder Bakterien in die Umwelt - das kann im Büro, in jedem öffentlichen Gebäude oder in der Umgebung der nächst gelegenen Chemiefabrik passieren. Somit lässt sich die Krankheit immer erst im Nachhinein als psychogen erkennen.

Auf jeden Fall aber ist das Phänomen ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie groß der Einfluss unserer Einbildung auf unsere Gesundheit sein kann.

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