Porträt:Für immer Ringer

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John Irving ist ein bewunderter Weltstar der Literatur. Doch der amerikanische Romancier hält jeden auf Abstand, der ihm zu nahe kommen will. Eine Berliner Begegnung.

Von Jenny Hoch

Die Teilnehmer einer internationalen Konferenz drängeln sich im ersten Stock des Grand Hyatt Hotels in Berlin, als sich John Irving eine Frau in den Weg stellt: "Hello, Mr. Irving." Der Schriftsteller wirkt wie erstarrt. Eine Szene wie aus seinem neuen Roman "Straße der Wunder", wo die Hauptfigur Juan Diego, ebenfalls ein Autor von Weltruhm, ständig von weiblichen Fans belagert wird. Genauer gesagt, von "Frauen eines gewissen Alters", die, wie es im Buch heißt, "denken, sie wissen alles über dich". Doch anders als Juan Diego, der sich solcher Damen gerne annimmt, flüchtet John Irving so schnell er kann in das Besprechungszimmer, das sein Verlag für ihn reserviert hat.

Der amerikanische Großschriftsteller - 14 Romane, mehr als zwölf Millionen verkaufte Bücher, Übersetzungen in 35 Sprachen - ist auf Lesereise und absolviert parallel dazu einen Interview-Marathon. Die Säle, in denen er liest, sind ausverkauft, Zeitungen, Radio, Fernsehen, alle reißen sich um den 74-Jährigen. Damit hat er ganz offensichtlich ein Problem. Dass die Frau von vorhin ihm in den Raum gefolgt ist, macht es nicht besser.

Der Schriftsteller tigert nun, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, so lange stumm um den Konferenztisch herum, bis die Pressedame einschreitet. Sie schüttelt der Verfolgerin freundlich die Hand. Irving lässt sich, immer noch ohne ein Wort zu sagen, auf einen Stuhl fallen. Er muss jetzt wohl oder übel Rede und Antwort stehen: Die fremde Frau im Zimmer ist kein Groupie, sondern Reporterin, die zum vereinbarten Interviewtermin erschienen ist.

Vor der Irving-Lesung spielen sich dramatische Szenen ab, das Radio überträgt live

Es war ja fast schon absehbar, denn John Irving gilt als etwas schwieriger Gesprächspartner. Im Laufe seiner langen Karriere hat er sich nicht selten über Journalisten beklagt. Über Fragen, die sich wiederholen, über Fragesteller, die seine Bücher nicht gelesen haben. Kann man verstehen - einerseits. Leute, die ihren Job nicht professionell machen, sind ein Ärgernis, gerade für einen akribischen Textarbeiter wie John Irving. Andererseits: Sind über Aufmerksamkeit jammernde Stars nicht noch viel ärgerlicher als einfallslose Journalisten? Warum tut sich einer, der dank seiner Bücher zum Millionär geworden ist, der von Kritikerlob überschüttet und von den Bossen mächtiger Hollywood-Filmstudios hofiert wird, solche Publicity-Touren überhaupt an, wenn er sie so schrecklich findet?

Der Abend zuvor. John Irving liest im großen Sendesaal des RBB, das Radio überträgt live. Vor der Tür spielen sich dramatische "Karte gesucht"-Szenen ab, in der Luft liegt dieses spezielle Summen der Vorfreude, das nur bei wenigen Kulturveranstaltungen auf diese Weise anschwillt. Im Publikum sind längst nicht nur "Frauen eines gewissen Alters", sondern auch Studenten, Rentner, Paare. Wenn John Irving ein Popstar der Literatur ist, dann einer, den alle Generationen lieben. Um die Zukunft des Romans braucht man sich keine Sorgen zu machen, solange es Lesungen wie diese gibt: in weiten Teilen auf Englisch und ohne größere Erklärungen die weitschweifige Handlung betreffend. Der Autor kann davon ausgehen, dass sein neues 772-Seiten-Epos bekannt ist.

Ein Bild von einem Schriftsteller: Offensichtlich ist dieser Mann auch mit 74 Jahren gut in Form. (Foto: Gaby Gerster/laif)

Da spielt es auch keine Rolle, dass einige Kritiker fanden, er habe es mit seiner "Alterslässigkeit" dieses Mal übertrieben und ein eher, nun ja, langatmiges Buch geschrieben. Es handelt von dem hinkenden Jungen Juan Diego, der sich selbst das Lesen beibringt, und seiner hellseherisch begabten Schwester Lupe, die im Mexiko der Siebzigerjahre auf einer Müllkippe leben, ehe ein amerikanischer Jesuitenpater sich ihrer annimmt. Lupe fällt im Zirkus einem Löwen zum Opfer, während Juan Diego von eben jenem Pater und einer Transsexuellen adoptiert wird und in den USA zum gefeierten Schriftsteller wird. Die Story ist in Rückblenden erzählt, in die sich der alternde, einsame, medikamentenabhängige Juan Diego auf einer Reise nach Manila geradezu hineindeliriert - Religions- und Kolonialismuskritik, Zirkusatmosphäre und deftiger Sex inklusive. Ein klassischer Irving, sozusagen.

Er scheint es zu genießen, jede Frage in einer schier endlosen Redepause verhallen zu lassen

Applaus brandet auf, als der Autor - silbergraues Haar, markantes Kinn, athletische Figur - die Bühne betritt. Für eine Sekunde probt er die bei Rappern und Showgrößen beliebte Pistolengeste, indem er mit den Fingern eine imaginäre Schusswaffe formt und damit aufs Publikum zielt. Aber er lässt die Hand schnell wieder sinken, diese Demonstration von Lässigkeit scheint ihm peinlich zu sein. Stattdessen setzt er sich schnurstracks auf seinen Platz und tut erst einmal gar nichts mehr. Ein Entertainer ist der Mann nicht, so viel ist schon mal klar.

Es gab Zeiten in John Irvings Leben, in denen es ganz und gar nicht rund lief. Vor 1978 war das, dem Erscheinungsjahr seines Romans "Garp und wie er die Welt sah", mit dem ihm der Durchbruch gelang. "Ich war an einem Tiefpunkt angelangt", sagt John Irving, "ich war über dreißig, und es war klar, dass ich keine große Karriere als Ringer mehr machen würde." Dazu muss man wissen: Irving war viele Jahre Profisportler, er war mit einem Sportstipendium ans College gekommen, später träumte er davon, es in den Kader für die Olympischen Spiele zu schaffen - vergeblich. Auch mit dem Schreiben, seiner zweiten Leidenschaft, ging es nicht so recht vorwärts, seine ersten beiden Bücher waren Misserfolge, sein Geld verdiente er als Dozent an der Uni. Dazu kam: Er war schon früh zum ersten Mal Vater geworden, mit Anfang zwanzig, doch seine erste Ehe war dabei zu zerbrechen.

Dass es ihm gelang, das Ruder doch noch herumzureißen, hat damit zu tun, dass John Irving eine Formel gefunden hat, die aus Büchern Bestseller macht. Um es gleich zu sagen: Sie funktioniert nur bei ihm - bei anderen käme vermutlich unerträglicher Kitsch heraus. Das John-Irving-Bestseller-Prinzip geht so: Der meist adoleszente Held wird ins pralle Leben geworfen, wo ihm unerhörte Dinge widerfahren, lebensverändernde Begebenheiten, die einerseits zu fantastisch sind, um wahr zu sein, anderseits aber etwas zutiefst Menschliches in sich tragen. "Ich mag Kontraste", sagt John Irving, "deswegen gibt es in meinen Geschichten sowohl komische und leichte als auch tragische Momente. Aber das ist ein altes Prinzip, das gibt es seit der Antike." Schon klar, formale Experimente haben diesen Autor noch nie interessiert: "So was macht doch nur, wer mit seiner Literatur angeben will."

John Irving bei der Trauerfeier für seinen Freund Günter Grass in Lübeck 2015. (Foto: dpa)

Stattdessen bevölkert er seine Romane mit dem typischen Irving-Personal: Stiefväter, Waisenkinder, Huren, Priester, Transvestiten, Krüppel, Clowns und Zwerge. Angeregt von so viel Skurrilität ist der Leser dann offen für handfeste politische Botschaften - liberale, versteht sich, John Irving ist ein felsenfester, Funken sprühender Ostküsten-Liberaler. Typische Problemfelder: Ungleichheit, Diskriminierung, Rassismus, Abtreibung, Glaube, Unglaube, Sex, Aids, psychische und physische Versehrtheiten aller Art. Langweilig wird es im Irving-Universum nie. Power-Literatur, die dennoch sensibel gesellschaftliche und private Verwerfungen auslotet - diesen Spagat macht John Irving so schnell keiner nach. Fragt man ihn nach seiner Beziehung zu seinen literarischen Sparringspartnern, den großen amerikanischen Erzählern, die allesamt tot sind (John Updike, Norman Mailer, Saul Bellow) oder in Rente (Philip Roth), antwortet er: "Darüber denke ich nie nach. Ich begreife mich nicht als amerikanischer Autor."

John Irving spricht bedächtig, er scheint es zu genießen, jede Frage in einer schier endlosen Redepause verhallen zu lassen. Erst irritiert das, dann fängt man an, ihn dabei zu studieren, was man ungeniert tun kann, weil der Schriftsteller ohnehin die ganze Zeit auf den Boden blickt. Sein schwarzes Outfit hat er jedenfalls mit Bedacht ausgewählt. Es kommt der Moment, in dem man glaubt, John Irving durchschaut zu haben: Weiß er in Wahrheit nicht ganz genau, was er gleich sagen wird? Schließlich hat er so gut wie alles schon einmal in anderen Interviews gesagt, und zwar ziemlich unabhängig davon, was für eine Frage ihm zuvor gestellt wurde. Da hat sich jemand ein Set an Antworten zurechtgelegt, das, routiniert und inklusive akkurat gesetzter Kunstpausen abgespult, das Bild eines Großschriftstellers in der Blüte seines Schaffens ergibt. John Irving ist eben auch ein begnadeter Darsteller seiner selbst. Ein Umstand übrigens, den er auch in "Straße der Wunder" beschreibt, wo seine Hauptfigur Juan Diego sich dabei ertappt, Formulierungen zu verwenden, die er bereits in Romanen benutzt hat. Spricht man ihn darauf an, ist seine Antwort abermals: langes Schweigen.

So gesehen erstaunt es nicht, dass John Irving ein Händchen für die amerikanischste aller Kunstformen hat, das Kino. Seine Romane sind idealer Stoff für Hollywood: 1982 kam "Garp und wie er die Welt sah" mit Robin Williams und Glenn Close ins Kino, zwei Jahre später folgte "Hotel New Hampshire" mit Jodie Foster, Beau Bridges und Nastassja Kinski. Mit "Gottes Werk und Teufels Beitrag" mit Tobey Maguire, Charlize Theron und Michael Caine stieg der Schriftsteller im Jahr 2000 endgültig in den Celebrity-Olymp auf: Er bekam den Oscar für das beste Drehbuch.

Das Schreiben hat John Irving oft mit dem Ringen verglichen. Bis heute ist er gut im Training, körperlich wie literarisch. Letzteres wohl auch deshalb, weil er die Tugenden, die er beim Sport verinnerlicht hat, auf seine Arbeit übertragen hat: Beharrlichkeit und Disziplin. "So wie man nicht auf Anhieb zentnerschwere Gewichte stemmt, konnte ich mich anfangs nur kurz konzentrieren." Er habe das dann trainiert wie ein Sportler seine Muskeln und sogar Buch darüber geführt, wie viel er schaffte. "War ich abgelenkt, zählte das nicht." So habe er sich mit der Zeit auf sechs Stunden ununterbrochene Schreibarbeit täglich gesteigert. Wie steht es mit Urlaub mit der Familie? John Irving ist in zweiter Ehe mit der Kanadierin Janet Turnbull verheiratet, die zugleich seine Agentin ist, und hat insgesamt drei Söhne und vier Enkel. "Wenn wir zusammen wegfahren, gehen die anderen an den Strand, und ich bleibe im Hotel und schreibe. Das ist das, was ich am liebsten mache."

Es sieht so aus, als habe John Irving vor allem eine Sorge: sich den Zudringlichkeiten seiner Umwelt zu entziehen. Außer, es geht um Politik, da ist John Irving wie verwandelt. Keine Redepausen mehr, er blickt seinem Gegenüber jetzt sogar direkt in die Augen. Den Buchstaben 'p' in 'Trump' und 'republican' betont er so, als müsse er etwas Widerliches ausspucken: "Amerika wieder großartig machen? Das ist nur eine weitere gehirnamputierte Phrase von Trump. Und die Medien sind auch noch happy, so einen Mist auszustrahlen, weil es Quote bringt, und denken, sie stünden über ihm und seiner Partei. Dabei hat er sie zu seinen Sklaven gemacht." Außerdem hat er eine klare Botschaft an die enttäuschten Bernie-Sanders-Unterstützer in seiner Partei: "Anstatt euch beleidigt über reaktionäre Republikaner zu mokieren, solltet ihr tun, was ihr tun müsst, nämlich wählen gehen - und zwar Hillary."

Und dann passiert es doch, es ist ein merkwürdiger Moment. John Irving wird für seine Verhältnisse zutraulich. Für eine Sekunde zwar nur, aber es genügt, um den Menschen hinter der moralischen Instanz zu erkennen. Er lächelt, als er sich seinem Gegenüber zuwendet und die Ärmel seines Shirts bis zu den Schultern hochkrempelt. Er hat sich die Namen seiner Kinder und seiner Frau unter die Haut ritzen lassen - in Schreibschrift. Und was hat es mit dem anderen Tattoo auf sich, einem Kreis mit zwei parallelen Strichen in der Mitte? "Das ist das zentrale Symbol auf Ringermatten", erklärt er. Ein Symbol, das daran erinnert, worum es im Leben geht: "Bei jeder Runde muss man auf den Startpunkt zurück."

Ende der Audienz. John Irving streckt die rechte Hand zum Abschied aus. Er hält sie so, dass sich unsere Handflächen auf keinen Fall berühren können.

© SZ vom 18.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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